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Wolga-Kreuzfahrt: Von russischer Schwermut keine Spur

Der elegante Flusskreuzer gleitet gemächlich dahin, schwebt beinahe über die sanften Wogen der Wolga. Moskau liegt bereits einen Tag zurück, das Ziel dieser Reise heißt: Sankt Petersburg. Doch bis dahin sind es noch rund 1500 Kilometer durch Flüsse, Kanäle und Seen.

An Bord: Abendstimmung auf der Wolga. Foto: Kathrin Schierl An Bord: Abendstimmung auf der Wolga. Foto: Kathrin Schierl

An Bord: Abendstimmung auf der Wolga. Foto: Kathrin Schierl

Durch das Bullauge ist flüchtig ein Ruderboot zu sehen, darin zwei Angler. Sie tragen Tarnanzüge, seltsam martialisch für mitteleuropäische Augen, aber in Russland weitverbreitet. Es wirkt, soweit aus der Ferne zu beurteilen, als angelten sie für die tägliche Bratpfanne, nicht allein zum Zeitvertreib. Plötzlich spritzt ein neongrüner Jetski vorbei, gelenkt von einem Froschmann in schwarzem Neopren. Das Ruderboot gerät ins Wanken, die Angler klammern sich stoisch an ihre Ruten. Der Wasserakrobat springt elegant über die Wellen und lässt sein Gefährt aufheulen, garantiert nur zum Zeitvertreib. Dann ist die Truvor vorbei auf ihrem Weg gen Norden, Karelien entgegen. Eine kleine Szene nur, aber vielleicht charakteristisch für das Russland von heute. Zeigt sie doch, wie weit auseinander die Pole liegen, zwischen denen dieses Land pendelt.

Ein magischer Moment: Ein junges russisches Paar tanzt über den Roten Platz. Foto: Kathrin Schierl

Ein magischer Moment: Ein junges russisches Paar tanzt über den Roten Platz. Foto: Kathrin Schierl

Langsam geht nun die Sonne unter. Sie spiegelt sich im torfigen Wasser und taucht die Flusslandschaft in rostig-rotes Licht. Über den Abend legt sich jene Schwermut, die auch der russischen Seele gerne attestiert wird. Die Gedanken an Bord wandern zurück nach Moskau, Russlands wuchtiger Kapitale, wo selbst die U-Bahnhöfe Ballsälen gleichen. Die Metro gilt nicht nur den Moskowitern als die schönste der Welt. „Unterirdische Paläste“, nennen sie die Stationen. Doch auch über der Erde geizt Moskau nicht mit Wahrzeichen. Allen voran der Rote Platz. Die Basiliuskathedrale, die mit ihren neun bonbonfarbenen Kuppeln aussieht, als habe sich ein Zuckerbäcker verwirklicht, und der Kreml, Russlands Machtzentrum, mussten hier über die Jahrhunderte als Kulisse für zaristische wie kommunistische Inszenierungen herhalten.

Moskau – die monumentale Metropole

Ballsaalgleich: die U-Bahn-Stationen in Moskau. Foto: Kathrin Schierl

Ballsaalgleich: die U-Bahn-Stationen in Moskau. Foto: Kathrin Schierl

Ohnehin prägt das Monumentale die Stadt: die Christ-Erlöser-Kathedrale, das Zentrum der russischen Orthodoxie, und die Lomonossow-Universität, eine der Sieben Schwestern – überdimensionierte Hochhäuser, erbaut nach Stalins großmannssüchtigen Launen im sozialistischen Klassizismus –, sind nur zwei Beispiele. Das Gigantische bleibt hängen, selbst wenn an Bord des Flusskreuzers der Blick zum Horizont längst wieder frei ist. Genauso aber kleine magische Momente. Wie etwa das junge Paar, das beschwingt über den Roten Platz tanzt. Zwei, drei Drehungen nur, ein Bild aber, das sich einbrennt. Wo ist sie, die russische Schwermut?

Bunte Holzhäuser: So leben die Russen an der Wolga. Foto: Kathrin Schierl

Bunte Holzhäuser: So leben die Russen an der Wolga. Foto: Kathrin Schierl

Auf dem Oberdeck des Flusskreuzers ist Moskau nur mehr Erinnerung. Am Ufer wechseln sich im letzten Abendlicht ärmliche, bunte Holzhäuser erstaunlich oft mit großen Villen ab – zumindest solange die Metropole noch in ein paar Autostunden zu erreichen ist. Die Wolga liegt träge vor dem Bug, zäh wie Altöl, beinahe gleichgültig, als könne sie nichts mehr erschüttern. Viel hat dieser Fluss gesehen über die Jahrhunderte und mit ihm Russland. Nicht nur beim Bau der Verbindungskanäle für ihre Wasserstraße zwischen Petersburg und Moskau, begonnen von den Zaren, vollendet von den Kommunisten, haben russische Herrscher ihrem Volk große Strapazen und einen hohen Blutzoll abverlangt.

„Zum Wohl“, wünscht Kellnerin Irina unvermittelt, holt den Blick des Gastes zurück aufs Boot und serviert ein Baltika, Bier aus Petersburg. Zuvorkommend, mit einem breiten Lachen, sehr freundlich. Typisch russisch? Eher nicht.

Warum grinst du wie ein Idiot?

„Warum grinst du wie ein Idiot?“, sagt der Volksmund. Mehr Vorwurf, denn Frage, unmissverständlich auf jeden Fall. Von aufgesetzter Freundlichkeit halten die Russen nichts. Kaum ein Lächeln, selten ein freundlicher Blick. Die Dame an der Museumskasse oder der Aufseher in der U-Bahn – Russland blickt meist drein, als habe man soeben erklärt, man wolle silberne Löffel stehlen. Ein Volk von ausgemachten Miesepetern sind die Russen trotzdem nicht. Distanz ist für sie eine schützende Maske, antrainiert im Kommunismus, kultiviert unter Putin. Zu einem offenen Umgang miteinander regte noch kein russisches Regime an. Erst wenn es privat wird, zeigt sich die russische Herzlichkeit. Aber dafür ist solch eine Reise zu flüchtig.

Uglitsch ist eines der Ziele auf der Route. Hier soll der Sohn Iwan des Schrecklichen ermordet worden sein. Foto: Kathrin Schierl

Uglitsch ist eines der Ziele auf der Route. Hier soll der Sohn Iwan des Schrecklichen ermordet worden sein. Foto: Kathrin Schierl

Aber es gibt Ausnahmen, völlig unverhofft, dafür umso charmanter. Eine Kirche im Christi-Verklärungs-Kloster in Jaroslawl, Großstadt an der Wolga. Wie immer hält eine Babuschka Wacht – diese älteren Damen schauen meist besonders grimmig. Ganz anders hier: Sie lächelt so sanft und offen, wie das nur einer Großmutter gelingt. Sofort setzt sie zur Privatführung an, unaufgefordert und in einem Kauderwelsch aus Deutsch, Englisch und Russisch. Sie erklärt Fresken, lotst mit kleinen Handbewegungen durch die Kirche und sagt andauernd etwas wie „Komm, komm!“. Dass die Broschüre, aus der sie ihr Wissen hat, keinen Käufer findet, kommentiert sie mit einem verständnisvollen Abwinken. Ihr Strahlen sagt: „Ihr habt ja recht, braucht kein Mensch.“

Gebaut ohne jeden Eisennagel

Freilichtmuseum im Onegasee: die Insel Kishi. Foto: Kathrin Schierl

Freilichtmuseum im Onegasee: die Insel Kishi. Foto: Kathrin Schierl

Die Viking Truvor schwebt weiter. Beinahe lautlos, vorbei an grünen Ufern. Der Wind an Deck bläst den Kopf frei von den Sorgen des Alltags. Das Wasser der Seen und Flüsse auf der einwöchigen Fahrt zeigt sich in allen Schattierungen: bräunlich, grün, anthrazit, gar bernsteinfarben. Eintönig wird es nie – ausspannen, staunen, genießen, garniert von kleinen Höhepunkten. Wie etwa der karelischen Insel Kishi im Onegasee, dem nördlichsten Ziel der Fahrt, wo ein Freiluftmuseum mit rund 80 Holzgebäuden entstanden ist. Darunter die Verklärungskirche, gebaut ohne jeden Eisennagel. Ihre 22 Kuppeln, gedeckt mit Schindeln aus Espenholz, glänzen silbrig in der Mittagssonne.

Der Katharinenpalast. Foto: Kathrin Schierl

Der Katharinenpalast. Foto: Kathrin Schierl

Der letzte Anker dieser Reise fällt in Sankt Petersburg. Die Eremitage, der Katharinenpalast mit dem  Bernsteinzimmer oder Schloss Peterhof, das russische Versailles:  Es warten Sehenswürdigkeiten von Weltrang. Die Stadt fühlt sich weit weniger russisch an als Moskau, ist touristischer und könnte überall in Europa liegen. Nicht nur der zusätzlichen Beschilderungen in Englisch wegen, die man in der Hauptstadt meist vergebens sucht. Einzigartig wiederum sind die Weißen Nächten. Trotz eines straffen Besichtigungsprogramms muss das Bett noch warten. Es ist kurz vor Mitternacht, wir flanieren über den Newskji-Prospekt, die große Prachtstraße. Die Sonne steht tief, aber sie brennt noch immer in die Gesichter, später wird sich, bevor der Planet wieder steigt, lediglich eine kurze Dämmerung über die Stadt legen. Um uns herum feiert die Petersburger Jugend das Ende des Schuljahres, sonnige Lebensfreude mitten in der Nacht. Und von russischer Schwermut keine Spur.

Raushier-Reisemagazin