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Camilleris Sizilien: Reise in fünf Wirklichkeiten

Wirklichkeit ist etwas Absolutes, fest und greifbar wie ein Stein. Nicht seicht, verschwimmend wie ein Traum. Wirklich? Eine Reise in die Wirklichkeit des Commissarios Montalbano belehrt uns, dass es gar fünf Wirklichkeiten gibt. Dumm, wem die falsche gegnügt. Nein, es gibt bei den fünf keine falsche. Es ist viel komplizierter.

Roman-Figur Commisario Montalbano ist ein Feinschmecker; auch im wirklichen Leben wird dem Rechnung getragen.

Roman-Figur Commisario Montalbano ist ein Feinschmecker; auch im wirklichen Leben wird dem Rechnung getragen.

Commissario Salvo Montalbano ist der Kommissar in den Romanen von Andrea Camilleri, des italienischen Erfolgsautors, der heute im Alter von 88 Jahren in Rom lebt, aber in Sizilien geboren wurde. Dort spielen auch seine Montalbano-Geschichten.

Dieser Salvo hat viele Millionen Fans. Und es ist ein unbewiesenes Gerücht, dass es nur Frauen wären. Es sind auch Männer dabei, darunter auch wir, die wir uns auf den Weg nach Sizilien machten. Und dies nicht wegen seines virilen Charmes, sondern wegen der Intelligenz der Camillerischen Geschichten.

Georges Simenon stand Pate

Andrea Camilleri wurde am 6. September 1925 in Porto Empedocle auf Sizilien geboren. Arbeit gab es nur in den Schwefelbergwerken und im Hafen. Es ist eine Zeit, wie sie von dem 60 Jahre älteren Luigi Pirandello beschrieben wurde, der auch in Porto Empedocle geboren wurde. Ihm und Jules Maigret verdankt Camilleri viel. Genau genommen verdankt die Person des Salvo Montalbano der literarischen Figur des belgischen Schriftstellers Georges Simenon eine Menge. Und Montalbano wurde er von Camilleri in Wertschätzung für den spanischen Schriftsteller Vasquez Montalban genannt. Die Zeit zwischen den Kriegen und die Doppelmoral des nur scheinbar friedfertigen Bürgertums setzen den Rahmen für Montalbanos Auftritte, die erste Wirklichkeit. Allerdings, Montalbano und seine Umwelt ändern sich, besonders deutlich in den letzten Büchern, als unserem Helden die Angst vor dem Altwerden den Rücken heraufkriecht und er merkt, dass all sein Ermitteln gegen die realen (wirklich wirklichen) Probleme Siziliens nicht hilft.

Erstes Ziel: Porto Empedocle

Modica liegt im Südosten Siziliens und gehört zur Provinz Ragusa. Sie ist eine der spätbarocken Städte des Val di Noto, die von der UNESCO zum Welterbe erklärt worden ist.

Modica liegt im Südosten Siziliens und gehört zur Provinz Ragusa. Sie ist eine der spätbarocken Städte des Val di Noto, die von der UNESCO zum Welterbe erklärt worden ist.

Natürlich hatten wir für unsere erste Expedition Porto Empedocle als Ziel gewählt. Wir wohnten privat zwischen Montallegro und dem Meer. Ist Porto Empedocle doch in Camilleris Büchern sehr gut hinter der Stadt, die er Vigata nennt, zu erkennen. So gut, dass sich die Stadt offiziell in Vigata umtaufen lassen wollte – auf dass der Tourismus kräftige Impulse von Fanreisen bekomme. Auf der Hauptstraße, der Via Roma, hat die Stadtverwaltung sogar eine Statue Montalbanos errichtet, die dem Schauspieler Luca Zingaretti allerdings gar nicht ähnlich sieht, eher Sherlock Holmes ohne Pfeife.

Der Leuchtturm von Punta Secca.

Der Leuchtturm von Punta Secca.

Im Dörfchen nebenan, namens Marinella, ist das Haus von Montalbano am Strand zu bestaunen. Dass die Stadt Agrigent Camilleris Montelusa ist, bleibt nicht verborgen. Und dass wir mit Enzo (in Enzos Kneipe isst Montalbano des Öfteren zu Mittag), der in Wirklichkeit Vincenzo Sacco heißt, in der Trattoria „Al Timone“ Brüderschaft trinken, ist unausweichlich. Vorher hatte er uns mit schwarzen Sepia-Spaghetti und Fritto Misto begeistert. Fisch- und Montalbano-Fans unter sich. Wir befinden uns in der zweiten, der literarischen Wirklichkeit, und wir laufen die Schauplätze ab. Wir suchen im arabischen Viertel von Agrigent die Wohnung der tunesischen Dirne, suchen nach der Wohnung des Mafia-Bosses und nach anderen Tatorten mehr. So wie wir die Bilder im Kopf haben. So wie es die Filme zeigen, welche die Eindrücke aus den Büchern konkretisieren.

Wie Oasensucher in der Wüste

Wir laufen oft ins Leere, kommen uns vor wie Oasensucher in der Wüste. Der Strand in Marinella lädt nicht zum Baden. Wir finden mehrere Strandvillen, aber nicht eindeutig sein Haus. Wir finden nicht die Mannará, wo einige Geschichten spielen, so „Die Form des Wassers“. Und vor allem: Wir finden den Leuchtturm nicht, der in jedem Film gezeigt wird.

Donnafugata ist ...

Donnafugata ist …

Mögen die Bücher noch so authentisch sein, weil Camilleri ja die in seinen Romanen beschriebenen Orte kennt, Vigata bleibt unbefriedigend. Also machten wir uns auf die Suche und fanden heraus, dass der Leuchtturm in Punta Secca steht und das Haus Montalbanos ebenfalls, und dass das Vigata des Films Marina di Ragusa heißt, dass das Kommissariat in Ragusa steht und das Büro des Pretors in Scicli. Als wir nacheinander in seinem Sessel Platz nehmen, der eigentlich der Stuhl des Bürgermeisters im Rathaus ist und uns keiner des Raumes oder des Sessels verweist, da wissen wir, da glauben wir schon eher, dass wir am Ziel sind.

Drei Stunden in eine Richtung

Aber man soll nicht vorgreifen. Denn von Porto Empedocle nach Marina di Ragusa ist es weit. Drei Stunden Fahrtzeit in eine Richtung. Da nimmt man keinen der für die Recherche vorgesehenen Tage und setzt sich einfach ins Auto. Auch wenn Info-Dienste wie Trip-Advisor beide Orte in einen Topf und eine Region legen. Nein, für diese Tatorte und für die Reise in die Wirklichkeit Nummer drei, die des Films, musste eine neue Sizilien-Expedition geplant werden.

... einer der größten ...

… einer der größten …

Diesmal ging es nach Marina di Ragusa. Standort war das Hotel Miramare, das die Erwähnung verdient hat, weil es unseren Ansprüchen genügte. Preiswert, große Terrasse, Blick aufs Meer.

Von dort machten wir uns nun auf. Zu Fuß nach Punta Secca. Bald kam wirklich ein Leuchtturm in Sicht, der Leuchtturm. Und siehe da: die gleichen Hinweise wie in Marinella: La Casa di Commissario Montalbano. Das Haus liegt wenige Meter neben dem Leuchtturm. Und diesmal ließen wir es durchgehen. Wir sahen die Terrasse und dort im Geiste den Kommissar bei Wein und Livia, seiner Lebensgefährtin, bei Whiskey und Ingrid, seiner platonischen Freundin.

Hier fühlen wir uns zu Hause

sizilianischen Adelspaläste.

sizilianischen Adelspaläste.

Wir fuhren nach Ragusa, ins Schloss Donnafugata, nach Modica, nach Scicli. Und wir fanden die Mannará. Wir fanden all die wundervollen Drehorte und lobten die Hersteller des italienischen Fernsehens RAI dafür, wie sie für Montalbano und seine Kollegen, seinen Vize Domenico „Mimì“ Augello, für Fazio, Gallo, Galluzzo und den unvergleichlichen Catarella eine Umgebung, eine Welt zaubern, in der auch wir uns zu Hause fühlen dürfen.

Was, wie gesagt, seinen fantastischen Höhepunkt findet, als wir uns nacheinander zum Amüsement der Bediensteten in Scicli auf dem Sitz des Bürgermeisters, natürlich muss es heißen auf dem Platz des Pretors, in Montelusa Platz nehmen. Wenn uns jetzt noch die Schwedin Ingrid zu einer Autofahrt eingeladen hätte, es wäre vermutlich nicht zum Aushalten gewesen.

: Immer wieder trifft man auf Trockenmauern. Das Mauerwerk besteht aus Natursteinen ohne Mörtel.

: Immer wieder trifft man auf Trockenmauern. Das Mauerwerk besteht aus Natursteinen ohne Mörtel.

Vermutlich würde jeder Psychologe nachdenklich mit dem Kopf wackeln über unsere Exkursionen im südlichen Sizilien und uns vermutlich schizoide Züge unterstellen. Egal, wir sind nicht allein. Der Tourismus in dieser armen Ecke des Landes blüht durch die Montalbano-Fans auf. Und wenn wir es vielleicht etwas übertreiben: Wir sind schließlich auf Recherche, will sagen, nicht (nur) zum Vergnügen hier.

Ragusa liegt nicht am Meer

Die Villa Calapiano ist Schauplatz in Andrea Camilleris Roman „Die Form des Wassers“.

Die Villa Calapiano ist Schauplatz in Andrea Camilleris Roman „Die Form des Wassers“.

Im Übrigen: Wer sich die Intro der RAI-Filme genau ansieht, wird erkennen, dass hier Bilder zusammengeschnitten werden, um eine weitere Wirklichkeit zu schaffen. Die des Filmes, die vierte also. Ragusa liegt nicht am Meer, da sind gut 20 Kilometer dazwischen, und die Außenaufnahmen werden woanders gedreht als die Innenaufnahmen des gleichen Ortes. Das ganze Sizilien der Provinzen Ragusa, Agrigent, Caltanisetta und Syrakus, Innen und Außen wird in den Filmen auf Datenträger gebracht, um diese Kultfilme herzustellen.

Das Büro des Pretors in Scicli.

Das Büro des Pretors in Scicli.

Und dann ist ja noch lange nicht gesagt, dass Camilleri, Montalbano, ihre Geschichten und ihre RAI-Filme aus uns dasselbe machen, die gleichen Bilder und Eindrücke in jedem von uns entstehen lassen. Eher kann man das Gegenteil annehmen. Es gibt also noch eine fünfte Wirklichkeit, und das ist die in uns. Hier finden unsere Vorstellungen, Sehnsüchte und Reflexionen Einfluss in die Montalbano-Geschichten.

Und weil diese Geschichten Synapsen haben für unsere Innenwelt, deswegen werden wir Fans. Und wurden andere Fans, die jetzt auf Schauplatzsuche gehen. Es entstand ein Massenphänomen, nicht nur mit touristischen Auswirkungen. Welcher andere zeitgenössische Autor könnte von sich behaupten, so etwas erreicht zu haben?

Fotos: Hans-Herbert Holzamer

Raushier-Reisemagazin