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Kann man sich wirklich nicht auf Indien vorbereiten?

Was meine Reisevorbereitungen anging, hatte ich verschiedene Reiseberichte und auch Artikel gelesen („Auf Indien kann man sich nicht vorbereiten“). Im Buchhandel stellte ich fest, dass ich mindestens zwei Reiseführer brauche, um Mumbai, Goa und Rajasthan abzudecken. Und ich entdeckte noch viele Dutzend mehr.

Dabei realisierte ich, wie groß und vielfältig das Land ist. Ich bin viel in Europa gereist und war der Ansicht, durch meine diesjährige Reise nach Hongkong gut auf Asien vorbereitet zu sein …

Eine viel bessere Vorbereitung jedoch war  die Lektüre von „Shantaram“, der Film „Life of Pi“ und dazu  indischer Tee …

Nein, ich möchte nicht Indiens Sehenswürdigkeiten beschreiben. Darüber gibt es genug Informationen, die jeder im Reiseführer und in den einschlägigen Reiseforen und -blogs nachlesen kann. Ich möchte meine persönlichen Eindrücke von Indien, von den kleinen Geschehnisse am Rande der großen touristischen Attraktionen wiedergeben. Denn das macht Indien aus. Indien ist laut, verschmutzt, umständlich und vor allem liebenswert, verrückt und bunt.

Hundertzehnprozent Indien: Hitze, Lärm und Diwali in Mumbai

Meine ersten Wahrnehmungen bei der Ankunft um Mitternacht in Mumbai war die Wärme und lautes, genauer gesagt ohrenbetäubendes Hupen. Beide Phänomene sollten mich auch noch während der Reise in unterschiedlicher Form und Intensität begleiten. Einen Taxifahrer wimmelte ich problemlos ab, mit dem Satz“ a friend will pick me up“. Bei der Fahrt mit dem Auto ins Expat-Viertel nahm ich müde die Tuktuks und Motorradfahrer wahr und fragte mich, wie viele Familienmitglieder wohl auf so ein normales Motorrad passen. Damensitz und Sari sehen schön aus, aber ob es so etwas wie Sicherheitsvorschriften gibt? Helmpflicht, Personenbegrenzung, Schutzkleidung, Vorschriften für Kinder? Während der Nacht begleiteten mich die Geräuschkulisse der startenden Flugzeuge des nahegelegenden Flughafen, das Hupen der Autos und eine unsägliche Hitze. Und das Feuerwerk des Diwali, des hinduistischen Lichterfestes.

Goa: Surrealität und Gelassenheit an der Agonda Beach

Mit leichten Kreislaufproblemen ging es per Flugzeug nach Goa. Die mitgebrachten Samosas gaben mir unterwegs einen ersten Einblick in die vegetarischen Spezialitäten der indischen Küche. Die Strandhütten in Goa waren klein und einfach und lehrten mich immer erst zu prüfen, was alles da ist und ob die sanitären Anlagen auch wirklich funktionierten, ehe man sie zu benutzen gedenkt. Das eine oder andere fehlte dann mal – was wohl auch mit dem verspäteten Saisonbeginn zusammenhing, da die Hütten nach dem Monsun erst später hergerichtet werden konnten. Dabei lernte ich auch das erste Mal in meinem Leben fliegende Kakerlaken kennen und war erstaunt, wie groß diese Tiere sein können.

Surreal: Kühe an der Agonda Beach in Goa

Surreal: Kühe an der Agonda Beach in Goa

Das Strandleben in Goa wirkte fast surreal – unter anderem durch die Kühe am Strand. Das Essen war fantastisch und zeigte, wie vielfältig und interessant gewürzt vegetarisches Essen doch sein kann und dass Kolapuri mit indischen Chilis sehr scharf ist. Nicht zu vergessen der leckere ginger lemon tea. Ein anderer Aspekt, den ich registrierte,war dass das Aufnehmen einer Bestellung und Kalkulieren der Rechnung schon zu einer komplizierten Sache werden kann, wenn sich mehr als drei Personen damit beschäftigen und dass hier indische Gelassenheit gefragt ist.

Mumbai: Fiktion trifft Realität

Was macht man eigentlich in zweieinhalb Tagen Mumbai? Nachdem ich mehrere Reiseführer befragt hatte, beschloss ich erst einmal die üblichen Sehenswürdigkeiten abzuklappern, um einen Überblick zu gewinnen: Das „Gateway of India“ war nervig, aber das Abwimmeln der Guides lernte ich auch sehr schnell mit „tomorrow, next time“ oder ständigem Wiederholen von „no, no, no“.

Am Crawford Market wurde ich regelrecht verfolgt mit dem Angebot mir „real indian spices“ zu zeigen. Auch mit großer Mühe und immer wiederholenden Abbiegemanövern durch Gemüse, Obst, Spices usw. konnte ich den nervigen Verfolger kaum loswerden. Viel spannender war dagegen dann vom Crawford Market auf die andere Straßenseite zu gelangen, wo ich abgeholt werden sollten. Zu empfehlen ist es, sich den Einheimischen anzuschließen, um gemeinsam mit ihnen die Straße zu überqueren und dabei zu schauen, wie sie es machen. Hierbei konnte ich die „Technik“ lernen. Nur die Gelassenheit dabei habe ich in der kurzen Zeit nicht erlernen können.

Rikschaparkplatz in Rajasthan.

Rikschaparkplatz in Rajasthan.

Der nächste Stopp am folgenden Tag war „Elephanta Island“. Schon geübt befragte ich die uniformierten Sicherheitskräfte, wo das Ticket Office ist, bekam auch prompt Auskunft und konnte nun sehr zielstrebig wieder mit den Worten „tomorrow, next time“ „no, no, no“ wie am Vortag das Ticket kaufen und auch gleich zusteigen. Bleibende Eindrücke waren das stark verschmutzte Meer auf der gesamten einstündigen Fahrt, der Müll der mich am Strand der Insel begrüßte sowie die zahlreichen Affen, vor denen auch in allen Reiseführern gewarnt wurde. Erschöpft und überhitzt kam ich wieder am „Gateway of India“ an und beschloss, ein paar Schritte zu gehen, schon Expertin, was Menschenmassen, Lärm, Straße überqueren und Guides abwimmeln anging. Ich schaffte es tatsächlich, ein paar Orangen zu kaufen und mich von den Massen freizulaufen. Wieder am Meer angekommen, beobachtete ich Orangen essend ein Fischerboot und dachte im ersten Moment sie fischen tatsächlich Fische hier. Doch dann sah ich die Müllansammlung, und dass sie durch den Müll fuhren, nach etwas Verwertbaren fischten und die „Ausbeute“ auf das Boot luden bzw. manches Plastik noch vorher vom Wasser befreiten. Erst viel später konnte ich einen der Zielorte des sortierten Mülls kennen lernen – nämlich am letzten Tag meiner Reise: Der Dharavi Slum, wo dieser Müll weiter verwertet oder recycelt wird.

Somit waren zwei Tage Mumbai geschafft! Den nächsten halben Tag brauchte ich dann auch wirklich, um Kräfte zu sammeln. Ich merkte, die Stadt ist wirklich anstrengend. Auch aus dem neunten Stock meiner Bleibe sah ich Dinge, die anders sind: Das Baustellengeschehen sah irgendwie viel bunter aus als bei uns – rote, orange und gelbe farbenfrohe T-Shirts. Das wäre vielleicht auch was für die grauen Tage in Deutschland, dachte ich. Und ich erinnerte mich an das beste Restaurant von Mumbai oben auf einer Baustelle aus dem Buch „Shantaram“. Nun schienen sich Fiktion und Realität so langsam zu vermischen …

Rajasthan – Platzausnutzung in Udaipur: „No problem!“

Von Udaipur blieb der vorherrschende Eindruck „schöne Stadt am See“ aber einfach viel zu viele Touristen. Das Interessanteste an Udaipur blieb die Fahrt durch den Ort zum Hotel – die Straße rauf und runter mit der Autorikscha. Wir waren davon ausgegangen, dass bei drei Personen, drei Koffern und eine Reisetasche, zwei Rikschas notwendig wären. Der Fahrer bewies uns mit den Worten „no problem“ das Gegenteil. Und tatsächlich wurden das Gepäck und wir in die Rikscha gestopft. Es ist auch nichts heruntergefallen oder verloren gegangen. Optimale Platzausnutzung ist in Indien an der Tagesordnung: Dies konnte ich auch an anderen Orten, bei Busfahrten, am Bahnhof oder beispielsweise bei Rikschas, die voll gestopft mit Schulkindern waren, immer wieder feststellen.

Auf den Spuren Mick Jaggers in Kumbhalgarh

Luxus in Kumbhalgarh.

Luxus in Kumbhalgarh.

Eine Nacht gönnten wir uns in einem Nobelhotel, wo Mick Jagger schon übernachtet haben soll. Den trafen wir allerdings nicht, sondern einen 1,90 Meter großen blonden britischen Praktikanten des Hotels, der dem Dauerregen seiner Heimat entflohen war, in komplett traditioneller „Rajasthan-Mmontur“ inklusive farbenfrohem Turban – was recht amüsant aussah. Vielleicht doch ein wenig zuviel der Folklore. Das vegetarische Gericht aus den Wüstenpflanzen Kair und Sangri beim Abendessen schmeckte jedoch einzigartig. Ein wenig nachdenklich machten mich allerdings beim Teetrinken auf dem Balkon der Blick auf das angrenzende Dorf – dort, wo das reale Leben stattfand. Es wirkte für mich doch irgendwie wie eine Theaterkulisse, von der wir kein Teil waren.

Verrücktes Treiben auf dem indischen Highway nach Jodphur

Busse und Trucks auf dem Highway.

Busse und Trucks auf dem Highway.

Jodphur ist zwar größer, aber wirkte viel weniger touristisch und gefiel mir auf Anhieb viel besser. Jedoch am meisten hat mich am Ende die Fahrt nach Jodphur beeindruckt: Fahren auf dem indischen Highway mit Kolonnenspringen zwischen den reich geschmückten in allen Tonlagen hupenden Trucks, die immer wieder ausscheren und auch mehrfach frontal auf einen zufahren. Dafür braucht man schon starke Nerven – auch oder gerade als Beifahrer. Ein völlig verrücktes Treiben mit Kühen, Radfahrern und Fußgängern auf der Fahrbahn.

Kamele und Déjà-vu aus den Siebzigern in Pushkar

Wer plant, ein neues Haustier in Form eines Dromedars zu erstehen, ist hier richtig: Für höchstens 600 Euro kann man eines kaufen. Und wer reich geschmückte Tiere bewundern und fotografieren will, findet hier eine große Auswahl. Wer an Atemwegsproblemen leidet, sollte allerdings wegen des Wüstenstaubs und der Kamelhaare mit entsprechenden Medikamenten gut vorsorgen.

Geschmückte Kamele in Pushkar.

Geschmückte Kamele in Pushkar.

Interessant waren ebenso die alten neuen Hippies aller Altersklassen. Da fühlte man sich glatt in die 70er oder frühen 80er versetzt. Ich fragte mich, woher kommen sie? Wie sieht ihr reales Leben in der Heimat aus? Zumindest in Europa begegnen sie einem allenfalls noch an Plätzen wie La Gomera oder Ibiza noch.

Empfehlenswert sind in Pushkar auf jeden Fall die mit Gemüse und Paneer gefüllten Parathas und Kichererbsen – dazu ein indischer Chai Massala. Unterhaltsam sind auf dem Kamelmarkt Programmpunkte wie der Moustachewettbewerb – wieder ein Déjà-vu aus den 70ern und frühen 80ern – und der Women Waterpot Race.

Wahlvorbereitungen in Jaipur

Straßentreiben in Jaipur.

Straßentreiben in Jaipur.

Die Dreimillionenstadt Jaipur ist wirklich sehr sehenswert mit ihren Palästen und dem wunderschönen Fort. Nur der Straßenverkehr war noch mörderischer als anderswo, so erschien es mir wenigstens als ein Tuktuk auf unseren stehenden Wagen aufprallte. Gewisse Ereignisse hatten einen Wiedererkennungswert: Kommissionsgesteuerte Guides und Kühe, denen die Müllberge ihre tägliche Nahrung bedeutet. Interessant dagegen waren die Heiligenbilder an den Mauern, um zu verhindern, dass jemand seine Notdurft an entsprechender Stelle verrichtet. Keine schlechte Idee und augenscheinlich sehr wirksam.

Nebenbei erfuhren wir auch von der im Dezember bevorstehenden Wahl in Rajasthan für 40 Millionen Menschen –  weil unser Wagen für Wahlzwecke konfisziert werden sollte. Letztendlich blieben wir aber davon verschont. Bunt hat es dann sicherlich ausgesehen beim Anstehen an der Wahlurne. Das konnte mir im nachhinein ein Foto der Frauen im Sari, die Schlange stehen, in der Süddeutschen bezeugen.

Das zweite Mumbai: Produktivität im Dharavi

Mumbai war inzwischen schon zur zweiten Heimat geworden. Der bereits liebgewonnene Fahrer holte uns nach Stunden geduldigen Wartens wegen einer Flugverspätung ab.

Der nächste Tag war schon auch der letzte meiner Reise, aber vielleicht ein Tag mit den eindrucksvollsten Bildern. Ich hatte eine zweieinhalbstündige Tour durch den Dharavi Slum gebucht. Die Tatsache, dass die Rupees für die Tour auch wieder zum großen Teil in die Sozialprojekte der Organisation fließen und keine Fotos gemacht werden dürfen, bestärkte mich darin, die Tour zu buchen. Gleich am verabredeten Treffpunkt, der Mahim Station, kam einer der Guides auf mich zu und organisierte für mich mit „meinem“ Fahrer die Rückfahrt. Ich war sehr positiv überrascht, dass man sich so um mich kümmerte – und das völlig ohne Nachfrage meinerseits. Dann trudelten die anderen Tourteilnehmer ein. Darunter ein Deutscher der vollkommen fertig meinte, Mumbai ist so unglaublich laut, schmutzig und so heiß. Klar hatte er recht, aber irgendwie hatte er wohl die positiven Seiten der Stadt noch nicht wahrgenommen oder bisher verpasst. Interessant war dann der Tourstart. Nachdem wir die Bahngleise über eine Brücke überquert hatten, versammelten wir uns für die ersten Erläuterungen zur Tour um den Guide: Meines Erachtens am lautesten Punkt mit einem ohrenbetäubenden Lärm der Züge. Der Guide fragte derweil mit einer derart bewundernswerten Gelassenheit, was wir denn unter einem „Slum“ verstünden.

Die Tour begann in den Produktions- und Recyclingstätten des Slums. Es war ein wahnsinnig geschäftiges Treiben dort, angefangen von Aluminium und Plastikverwertung bis hin zur Lederverarbeitung. Von der Produktivität dort war ich wirklich beeindruckt. Das hatte ich so nicht erwartet. Dann streiften wir im Bückgang durch die engen Gassen der Wohnstätten, wobei mir vor allem der Geruch nach köstlichem Dhal, einem Linsen-Gericht – zwischen all den anderen nicht so angenehmen Gerüchen – in Erinnerung bleiben sollte. Die Frage einer Tourteilnehmerin, ob in den Häusern oben die Schlafräume und unten die Wohnräume seien zeigte, dass sie noch sehr weit weg war von der Realität der Lebensbedingungen und Enge dort.

Einen Überblick über den Dharavi-Distrikt bekamen wir, als wir auf die Dächer der Häuser kletterten: Der Blick fiel unter anderem auf die angrenzenden modernen Banktürme und ich fragte mich, wie lange der Slum noch so bestehen würde oder ob er auch irgendwann der Finanzkraft zum Opfer fallen würde. Irgendwie fiel mir auf, dass viele Menschen dort freundlich und fröhlich wirkten. Selbst ein Bewohner, der vor seinem Haus saß und sich gerade komplett einschäumte und wusch lachte uns an und sah unsere Anwesenheit nicht als Affront oder Angriff auf seine Privatsphäre. Er sah auch wirklich lustig aus mit dem Schaum überall. Es schienen alle in friedlicher Koexistenz zu leben, selbst die abgemagerte Katze und die Maus, die über ihr auf dem Dachsims lief. Trotz des Drecks und der mangelnden sanitären Anlagen sahen die Bewohner gepflegt aus und beim Wäschewaschen per Hand, konnte man nur erahnen, welche Mühe dahinter stecken kann.

Trotz widriger Umstände an diesem Montag – eine Kokosnuss fiel auf das Auto, das mich zum Flughafen bringen sollte, dann hatte sich noch ein Nagel in die Reifen gebohrt – und ausführlicher Diskussion zwischen Fahrer und Security zum Thema Kokosnuss mit meiner Gastgeberin  ging es in der Nacht dann schon wieder zurück und sicher wurde ich wieder zum Flughafen manövriert. Ich war schweißgebadet und wieder begleitete mich das laute Hupen bis zum Eingang des Flughafengebäudes der Stadt.

Fotos: Cäcilia Jungeilges

Raushier-Reisemagazin