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Grünes Band zwischen Hessen und Thüringen: Erst 25 Jahre?

Feine nebelfeuchte Netze hängen zwischen den niedrigen Sträuchern. Die Sonne, die hinter den Bergen der Thüringer Rhön sich anschickt, den Himmel zu erklimmen, lässt die feinen Strukturen der kunstvoll gewobenen Spinnenfäden glitzern wie schäumendes Meer. Es ist Morgen in Point Alpha. Point Alpha liegt in Hessen. Die Sträucher, Gräser und kleinen Büsche wachsen im grünen Band, das die Grenze zwischen diesen beiden Bundesländern bildet und das Deutschland durchläuft von der Ostsee bis an die tschechische Grenze.

Die Werrabrücke von Vacha, auch Brücke der Einheit genannt, ist eine 225 Meter lange Steinbogenbrücke aus dem Mittelalter, das das thüringische Vacha mit dem hessischen Philippsthal verbindet und die Werra überspannt.

Die Werrabrücke von Vacha, auch Brücke der Einheit genannt, ist eine 225 Meter lange Steinbogenbrücke aus dem Mittelalter, das das thüringische Vacha mit dem hessischen Philippsthal verbindet und die Werra überspannt.

Es ist friedlich hier, Geisa, die nahe Stadt, liegt unter uns im zarten Nebel, zu unserer Rechten befindet sich der Grenzzaun, ein Stück davon bewahrt als Erinnerung und Mahnmal, dahinter der Wachtturm der NVA, hinter uns das Gegenstück der Amerikaner, ein weißer Turm, so hoch, dass er den Blick und das Lauschen erlaubte, weit hinein ins feindliche Land. 700 Meter weiter entfernt das Haus auf der Grenze, ein beeindruckend gutes Museum zur Geschichte der deutschen Teilung. Ganz in unserer Nähe Relikte einer Zeit, als sich zwei Kolosse waffenstarrend gegenüber lagen. Aufgestellte Betonplatten, um Fahrzeuge an der Flucht zu hindern, ein Erdbunker, Selbstschussanlagen, ein Kreuz. Würden mir mit den Füßen im Sand scharren, wir würden auch Minentrümmer finden.

Frieden liegt über dem Land

Heute ist es still hier, Frieden liegt über dem Land. Seit 25 Jahren. Damals ging die Grenze auf, nicht auf einmal im ganzen Land, wie man glauben mag. Als am 9. November 1989 in Berlin die Mauer sich öffnete, als sie fiel, wie man sagt, bedeutete das nicht, dass plötzlich überall die Barrieren, Panzersperren, Erdwälle, Schlagbäume sich in Luft auflösten. Auf unserer Reise die Grenze entlang zwischen Hessen und Thüringen erfahren wir, dass es unzählige gekappte Lebensadern gab, die zu unterschiedlichen Zeiten verstreut über mehrere Wochen wieder aneinander gefügt werden mussten.

Auf der alten Werrabrücke in Phillipsthal, erzählt uns der damalige Bürgermeister Fritz Schäfer, Zollbeamte hätten ihn gebeten, bei der Jahresabschlussfeier der Wanderabteilung des Turn- und Sportvereins in der Gaststätte Tiefenkeller am 11. November 1989 nicht zu sagen, dass die trennende Brücke in der Nacht 12. November 1989 freigeräumt würde. Man wollte Tumulte vermeiden. Man wusste zwar, was in Berlin passiert war, glaubte aber nicht daran, dass es mehr wäre als ein Moment. Es wohnten in Philippsthal viele Menschen, die aus Vacha, auf der anderen Seite der Werra, stammten. Aber zwei junge Ehepaare, die in Vacha lebten, hatten die am 9. November von Politbüro-Mitglied Günter Schabowski verkündete allgemeine Reisefreiheit für DDR-Bürger genutzt, um auf dem Umweg über den Grenzübergang Herleshausen nach Philippsthal zu fahren. Ihnen wollte Fritz Schäfer den Rückweg verkürzen.

Außenansicht der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt.

Außenansicht der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt.

In seinem Grußwort verkündete er, diese Besucher könnten am nächsten Morgen direkt von Philippsthal nach Vacha zurückfahren. Am nächsten Morgen erlebten Tausende ungläubig den Gang über die Brücke mit, die 25 Jahre lang gesperrt wurde, und die sich die friedliche Revolution ohne Gewalt zurückkämpfte. Als er am 12. November die Brücke betritt, kommen ihm von Vacha her einige Männer entgegen, einer von ihnen ist der Vachaer Bürgermeister Werner Mäder. Schäfer erinnert sich, und Tränen steigen in seinen Augen auf: „Er sagte uns, dass er seinen Kollegen in Philippsthal besuchen wolle. Ich habe geantwortet: Sie brauchen nicht so weit zu laufen, ich stehe vor Ihnen.“

Zuwinken durch den Stacheldrahtzaun

Wir hören überall Geschichten, oft auch traurige und bedrückende, wie die des Brautpaars, das den Eltern der Braut nur durch den Stacheldraht zuwinken konnte. Jahre später bückt sich die Braut, jetzt eine alte Frau, um mit dem Enkelkind durch den aufgeschnittenen Draht zu klettern. Erzählt werden uns diese Geschichten von Zeitzeugen oder wir hören sie in Bild und Ton im Museum, dem Haus auf der Grenze.

„Man konnte nicht einfach zurückwinken“, sagt der Stockmacher Michael Geyer, der heute in Lindewerra ein Lokal betreibt und seine Stockmacherei dem Sohn übertragen hat. „Das war verbotene Kontaktaufnahme mit dem Feind.“ Jede Reaktion brachte das Risiko mit sich, im Rahmen der Aktion „Ungeziefer“ zwangsausgesiedelt zu werden. Lindewerra liegt direkt am Fluss, die Brücke ins Hessische war gesprengt. Es war Sperrgebiet, eingezäunt, vermint. Es hätte wie 100 andere Objekte auch einer „Wüstung“ zum Opfer fallen können, einer Zerstörung. Und jeder Wanderstock, den er ins benachbarte Oberrieden hätte verkaufen wollen, ging den Weg über die staatliche Außenhandelsbehörde. Doktor House aus der amerikanischen Fernsehserie hat seinen Wanderstock vermutlich einfacher bekommen. Es war jedenfalls keine PR-Aktion, sagt Michael Geyer. Die Werra windet sich in Kurven, Schleifen und Schlingen durch dieses schöne Land, die Grenze grub sich entsprechend der alten Provinzgrenzen ihren blutigen Weg, mal rechts mal links des Flusslaufes.

Freundliche Menschen warten auf Gäste

Der Grenzzaun vor Point Alpha.

Der Grenzzaun vor Point Alpha.

Dabei wollten uns der hessische und der thüringische Tourismusverband vor allem die Schönheiten dieser Gegend zeigen, wir wandern auf dem grünen Band, wir radeln den Werra-Radweg entlang, mal von Heyrode aus auf einer stillgelegten Bahntrasse den Verbindungsweg zur Unstrut, mal auf den Betonplatten des Kontrollweges der NVA. Das Rumpeln, das an die Autofahrten auf der Interzonen-Autobahn erinnert, wird durch gnädiges Gras, in Löchern und Fugen gemildert. Wir erleben Städte und Dörfer wie Eschwege oder Treffurt auf beiden Seiten des grünen Bandes, die fein geputzt mit ihren Fachwerkhäusern und ihren freundlichen Menschen auf Gäste warten, die im Herzen Deutschlands Erholung und Freude suchen wollen.

Es gibt Lobendes zu berichten von hervorragend ausgezeichneten Wegen, von Karten für Wanderer und Radfahrer, von Ladestellen für E-Bikes, vom „Alten Bahnhof“ in Heyrode, der von Behinderten in professioneller Weise als Gasthof bewirtschaftet wird, von Schlössern, wie dem Schloss-Hotel Wolfsbrunnen in Meinhard, der Burg Normannstein in Treffurt, das Fürstliche Schloss in Geisa, die Burg Hanstein. Gasthäuser bringen die regionale Kost zu gastronomischer Exzellenz wie die Jausenstation Weißenbach mit „ahler Wurscht“ und traditionellem Frisch- und Kochkäse, der Klausenhof mit seinen mittelalterlichen Exerzitien, der Goldene Engel in Eschwege, die Grüne Kutte in Bernshausen. Es ist alles, wie es sich der Reisende nur wünschen kann. Qualität, Preis, Service. Aber die Emotionen lassen uns nicht los. 25 Jahre ist der Spuk her, aber ist es vorbei? Der Leiter des Museums auf der Grenze teilt uns mit, ein Schüler habe ihm erstaunt erzählt, er hätte gar nicht gewusst, dass Deutschland geteilt gewesen sei. Entsetzt habe er die übrigen Schüler angesprochen, bei denen wäre der Wissensstand ähnlich gewesen. Die Lehrerin habe betreten nach unten geschaut.

25 Jahre versunken in der Geschichte?

Auf der Rückfahrt von dieser Reise lese ich, dass Putin in einem Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten Poroschenko nicht nur gedroht habe, er könne in 14 Tagen Kiew erobern, er stellte ähnliches dem Baltikum und Polen in Aussicht. 25 Jahre versunken in der Geschichte? Der Tonfall zwischen Russland einerseits, Europa und den USA andererseits nähert sich wieder dem des Kalten Krieges. Vor 25 Jahren hatte die DDR schon die Ordenspangen geprägt, die für Heldentaten beim geplanten Angriff durch den „Fulda-Gap“ verteilt werden sollten.

Das Baumkreuz ist ein Kunst-Objekt; gepflanzte Alleen am Zaun und an der Straße treffen sich an der ehemaligen Grenze treffen.

Das Baumkreuz ist ein Kunst-Objekt; gepflanzte Alleen am Zaun und an der Straße treffen sich an der ehemaligen Grenze treffen.

Das Grüne Band bedeckt heute nur einen kleinen Teil des Risses, der durch das ganze Europa lief, vom Nordmeer bis zum Schwarzen Meer. „Das Brot der Demokratie wird hart“, sagt uns Ralf-Uwe Beck, Pressesprecher der evangelischen Landeskirche, ein Zeitzeuge, der damals Pfarrer war, sich später für das „Baumkreuz von Ifta“ einsetzte, „das Brot, das wir uns damals in der friedlichen Demokratie erkämpft hatten.“ Wir treffen ihn an der B 7, die von Kassel nach Eisenach führt. Das Baumkreuz ist ein Kunst-Objekt, gepflanzte Alleen am Zaun und an der Straße, die sich an der Grenze treffen. Er ist besorgt, und er ist es nicht allein. Oft hören wir kritische Stimmen. Die letzte Landtagswahl in Thüringen liegt noch nicht allzu lange zurück. Die Wahlbeteiligung lag bei dürftigen 50 Prozent. In Erfurt erfahren wir in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße, einem einzigartig guten Museum im ehemaligen Gefängnis der Staatssicherheit, dass in den Tagen vor dem Sturm auf die Erfurter Stasi-Zentrale die Kirchen voll waren. Nicht nur die Christen zeigten Mut, alle Bürger waren dabei. Fotos, die zum Teil auch von Stasi-Mitarbeitern aufgenommen wurden, dokumentieren dies. Und heute kein Interesse mehr am Brot der Demokratie? „Der Kampf ist noch nicht vorbei“, sagt Berthold Dücker, der 1992 das Amt des Chefredakteurs der Südthüringer Nachrichten in Geisa übernahm. „Die Linke, davor PDS, davor SED, nur der Name änderte sich, nicht aber die Kader, nicht die Struktur, nicht die Ziele, will die Regierungsgewalt in Thüringen übernehmen, zusammen mit der SPD und den Grünen.“ Noch ist es nicht entschieden.

Vielleicht ist die Furcht übertrieben. Aber will man das einem Mann in den 70ern vorwerfen, der als 16-Jähriger den Stacheldrahtzaun durchschnitt, dann, während er weiter auf dem Boden kroch, mit der Kneifzange vor sich das Erdreich auf Minen abtastete? Und alles nur, um seinen Beruf, den eines Journalisten, ergreifen zu können. Nein, vor Beschwichtigungen sollte man sich tunlichst hüten.

Angst herrscht noch immer

Orden auf Vorrat.

Orden auf Vorrat.

Viele Leute, mit denen wir sprachen, haben Angst, sie verstehen es nicht, dass man den „Wärtern der Zellen in Erfurt“ wieder die Schlüssel aushändigen wolle. Der Leiter des Grenzmuseums Schifflersgrund, Wolfgang Ruske, Ltd. Polizeidirektor a.D. und früher mit der Bewachung der Grenze auf DDR-Seite betraut, nennt Namen von Männern, die früher die Diktatur stützten und heute bei der Linken sind. Diese sorgten dafür, dass immer noch der Schießbefehl und die Tatsache bestritten würde, dass der Bau der Mauer nicht von Moskau, sondern von der SED ausging. Es gebe noch die politische Lüge; „und es gibt immer noch – und wieder – Leute, die ziehen es vor, den Mund zu halten.“

Viele Gedenkveranstaltungen

Aber was ist zu tun? Das grüne Band ist eine Idylle, ein Rückzugsraum für die Natur, aber es ist auch eine Mahnung, ebenso wie das Baumkreuz von Ifta. Der Kampf um die Wahrheit, um Demokratie, Frieden und die Menschenrechte ist nicht vorbei. Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Berliner Mauerfalls werden am 9. November entlang des ehemaligen innerstädtischen Mauerverlaufs tausende erleuchtete Luftballons aufsteigen. Auch an der hessisch- thüringischen Landesgrenze wird es viele Gedenkveranstaltungen in den nächsten Tagen und Wochen geben.

Eine Hinweistafel erinnert an die innerdeutsche Grenze.

Eine Hinweistafel erinnert an die innerdeutsche Grenze.

Selbst die Bewahrung von Point Alpha als Denkmal und Treffpunkt für die Jugend war ein Kampf. Die Bagger zum Abräumen waren schon vor Ort und mussten mit bloßen Händen gestoppt werden, erzählt Berthold Drucker. Heute kommen Hunderttausende jährlich zum Besuch. Es müssten viel mehr sein, die sich aufmachen zum grünen Band. Es ist ja nicht weit, weil es in der Mitte liegt. Es ist wunderbar erschlossen. Man kann alleine sein in und mit der Natur, beten, nachdenken, dankbar sein. Aber man kann auch sein Verständnis dafür schulen, wie verletzlich unsere Idylle ist, wie leicht der Frieden und die Demokratie, in der wir es uns so bequem gemacht haben, reißen kann. So leicht kann alles reißen wie ein von Spinnen gewebtes Netz im Grün des ehemaligen Todesstreifens.

Informationen: www.thueringen-entdecken.de; www.hessen-tourismus.de; www.pointalpha.com; www.grenzmuseum.de; www.stiftung-ettersberg.de/andreasstrasse; www.erlebnisgruenesband.de

Fotos: Hans-Herbert Holzamer

Raushier-Reisemagazin

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