Seufzend in geheimer Klage / Streift der Wind durch das letzte Grün; / Und die süßen Sommertage, / Ach, sie sind dahin, dahin! Tatsächlich, eine steife Nordseebrise wirbelt nicht nur die letzten Blätter und Blüten durcheinander, sondern auch die Kleider der Spaziergänger. Und der Tourist bedauert bang wie Theodor Storm (1817-1888) in seinem Gedicht „Herbst“, dass Mitte Oktober der Sommer längst dahin und Sonnenbaden am Strand nun fast unmöglich ist. Aber weder der kühle Wind, noch kältere Temperaturen halten Urlauber, Enthusiasten und Familien mit Kindern von der Visite d e r deutschen Insel ab. Sylt ist auch in der trüben Jahreszeit bestens besucht.
Bei „Gosch“ in Wenningstedt und List muss man im Herbst sowohl mittags und abends geduldig anstehen, um einen Sitzplatz zu finden und um an Speisen und Getränke zu gelangen. Aber wenn das Essen von innen wärmt, werden selbst zuvor nörgelnde Kinder friedlicher und auch die Großen sind zufrieden mit einem ereignis- und lehrreichen Tag auf Sylt.
Strandhafer und mehr
Hat doch zuvor im „Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt“ eine Führerin anschaulich die Bedeutung des Strandhafers erklärt, der mit seinen zwölf Meter langen Wurzeln den Sand hält und das Erdreich stabilisiert. Um ihn zu schützen, darf man die Anpflanzungen nicht betreten. Was man sowie so nicht macht, weil er verdammt pickst, wenn man doch einmal – natürlich rein zufällig – auf ihn mit nackten Füßen tritt. Neben Erläuterungen zum Strandhafer bietet das Zentrum Informationen und Einblicke in maritime Themen wie die Nordsee-, Meeres- und Klimaforschung, den Nationalpark Wattenmeer sowie Umwelt- und Küstenschutz. Angesichts der Fülle von Themen geht für Groß und Klein ein trüber Tag auf Sylt schnell vorbei. Etwas Zeit sollte man sich noch nehmen, um vom Dach des Zentrums die Aussicht zu genießen. Bei klarem Wetter sieht man Dänemark und noch weiter.
„Nur noch einmal bricht die Sonne / Unaufhaltsam durch den Dunst,“ dichtete Theodor Storm und wenn dies im Oktober geschieht, dann lockt vielleicht zum letzten Male im Jahr der unendlich weite weiße Strand. Die kleineren Kinder buddeln eifrig im Sand und bauen eine Burg nach der anderen, bis die von der Flut wieder zerstört werden. Die Größeren spielen zum letzten Mal barfuß Volleyball oder Fußball, während die Erwachsenen entweder den Strand entlang spazieren, im Strandkorb die Sonnenstrahlen genießen oder die Uwe-Düne in Kampen erklimmen, die mit 52,5 Metern geradezu atemberaubend hoch ist.
Kapitänsdorf Keitum
Bei Nieselregen hingegen bleibt der Strand nahezu verwaist und dann bietet sich ein geführter Rundgang etwa durch das Kapitänsdorf Keitum an. Dafür ist Claus der einzig wahre Cicerone. Er erzählt, ohne in den Stil der Klatsch-Zeitschriften zu fallen, von den Bewohnern des Ortes, erklärt die Architektur der reetgedeckten Häuser mit ihren Stockrosen vor der Tür, flechtet die Geschichte des Ortes und der Insel ein und unterhält mit spannenden und lustigen Anekdoten. Auch die aktuellen Probleme der Insel wie die horrenden Immobilienpreise und den dadurch bedingten Wegzug der Einheimischen verschweigt er nicht. Am Ende des Spaziergangs mit Claus meint man, selbst fast zum Keitumer geworden zu sein.
Letzte Ruhestätte für Suhrkamp, Augstein und Raddatz
Aber für ein Grab auf dem Friedhof neben der Kirche St. Severin ist es noch zu früh. Der Literaturkritiker Fritz J. Raddatz (1931-2015) hat sich an seinem fünfzigsten Geburtstag eine Grabstätte „mit Blick aufs Watt“ gesichert und an seinem siebzigsten den passenden Grabstein zugelegt. „Ich war da in einer Phase der gewachsenen Melancholie und dachte, mein Gott, man kauft sich alles Mögliche, einen Eisschrank, ein Auto, vielleicht sogar ein Haus. Doch die Leute denken dabei nie an die letzte Wohnung. Und meine sollte unbedingt auf Sylt sein, meiner zweiten Heimat“, begründete Raddatz seine Entscheidungen. Neben all den Insulanern hat er hier nun in Reichweite von Peter Suhrkamp und Rudolf Augstein seine letzte Ruhestätte gefunden.
Vor allem in Suhrkamps Kampener Domizil trafen sich seit 1935 gern die Dichter seiner Verlage wie Carl Zuckmayer oder Max Frisch, um mit ihrem Verleger über ihre Pläne und oder ihre jüngsten Texte zu diskutieren. Irgendwann waren dann auf Sylt fast alle, die in der Kultur Rang und Namen hatten.
Bunte Blüten und leuchtende Farben erlebt der Sylt-Urlauber, wenn er an einem dieser trüben Herbsttage einen Ausflug nach Seebüll unternimmt, um das 1927 erbaute Wohn- und Atelierhaus und den Garten mit seinen vielen Blumen sowie nicht zuletzt die Bilder Emil Noldes (1867-1956) zu sehen. Zuvor gilt es allerdings den elf Kilometer langen Eisenbahndamm zu überqueren, der noch immer den Namen des Reichspräsidenten und Wegbereiter Adolf Hitlers, Paul von Hindenburg, trägt.
Die Verbindungen Noldes mit dem Nationalsozialismus und dessen Gedankengut wird in dem Film, der als Einführung in dem neu erstellten Forum läuft, nur diskret angesprochen. Überhaupt verzichtet der Streifen weitgehend auf die Darstellung gesellschaftlicher und politischer Probleme sowie auf eine Einordnung Noldes in das künstlerische Schaffen seiner Zeit zugunsten eines monomanisch seinen Weg verfolgenden Malers. „Die Kunst selbst“, formulierte Nolde, „ist meine Sprache.“ Und diese Sprache der Farben und Motive fasziniert noch sechzig Jahre nach dem Tod des Malers. Wie er mit drei Farben, gelb, blau und grün, zaubert und ein Bild wie „Blaue See mit zwei kleinen Seglern“(entstanden 1946) schafft, verschlägt die Sprache des Betrachters.
Noldes Badetuch und Storms schmales Gästehandtuch
Dem Haus gegenüber standen „eine Partie von hochstämmigen Rosen […]; aber sie hingen jetzt wie verdorrte Reiser an den entfärbten Blumenstöcken, während unter ihnen mit unzähligen Rosen bedeckte Zentifolien ihre fallenden Blätter auf Gras und Kraut umherstreuten.“ Nicht Nolde beschreibt hier seinen Garten im Herbst, sondern Theodor Storm malt mit Worten in seiner Erzählung „Viola tricolor“ seinen eigenen Garten in Husum.
Welch‘ ein Unterschied in Lage und Größe der beiden Gärten: Storms liegt mitten in der Stadt und ist gemessen an denen seiner Nachbarn recht umfangreich. Noldes Anwesen dagegen liegt einsam und abgeschieden in einer weiten Landschaft und verhält sich im Vergleich der beiden Gärten wie ein riesiges Badetuch zu einem sehr schmalen Gästehandtuch. Nolde liegt zwar bei der Größe des Gartens vorn, aber das Storm-Haus punktet damit, dass es der Besucher betreten und überall hingehen kann. Bei Nolde hindert eine Glasscheibe an der Besichtigung der Privaträume.
Gelangt der Besucher in Storms Arbeitszimmer, ist er „ganz allein zwischen den hohen Repositorien, die mit ihren unzähligen Büchern so ehrfurchtsgebietend“ umher stehen und unter dem Fenster des Zimmers sieht er, wie „sich der große Garten des Hauses in weiten Rasen- und Gebüschpartien“ ausbreitet. Im Wohnzimmer stehen das Klavier und das Biedermeiersofa, beides von Storm benutzt. Auch für die anderen Räume hat die Storm-Gesellschaft viele Original-Möbel erworben, damit das Haus bestückt ist und der Zustand wiederhergestellt, als Storm 1866 bis 1880 in der der Wasserreihe 31 gewohnt und gedichtet hat: „Am grauen Strand, am grauen Meer / und seitab liegt die Stadt; / Der Nebel drückt die Dächer schwer, / Und durch die Stille braust das Meer / Eintönig um die Stadt.“
Lister Seekühe
Auf der Rückfahrt auf die Insel von den Ausflügen auf das Festland sieht man bei Ebbe von der Straße zwischen Kampen und List merkwürdige Objekte mit Beinen im Wattenmeer. „Das sind die Lister Seekühe“, sagen die Einheimischen schelmisch. In Wahrheit wurden während des Zweiten Weltkrieges die Bauten als Schussziele für Übungen genutzt, denn Sylt war Exerzierplatz für den deutschen Angriff auf Großbritannien. Die Lister Seekühe sind eine der wenigen sichtbaren Erinnerungen an die Insel-Vergangenheit. Seitdem verändert sich Sylt ununterbrochen – nicht immer zu seinem Vorteil. Dennoch: Auch im Herbst und trotz trüben Wetters strömen die Gäste nach Sylt.