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Gehversuche in der Wildnis

Drei Tage lang habe ich mich alleine mit einem Kanu durch die Wildnis Südnorwegens geschlagen.  Weil ich ein Typ wie Bear Grylls bin? Nein. Ich bin Student, Großstadtkind, und hatte keine Ahnung, was ich tue.

Gehversuche in der Wildnis

Gehversuche in der Wildnis.

Ich habe noch nie einen Fisch gefangen oder ausgenommen, geschweige denn getötet. Um ehrlich zu sein, war ich auch noch nie drei Tage nur für mich alleine, schon gar nicht in der Wildnis. Jetzt stehe ich hier am See, einzelne Inseln verstecken sich in der Ferne zwischen Nebelfetzen. Wohin soll’s gehen? Ich habe keine Ahnung. Eine klassische Landkarte ist mein Navigationsgerät, Kanu, Zelt, Angel und Kamera sind meine einzigen Begleiter.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich alleine zu sein. Wochenlang habe ich diesen Trip geplant, stundenlang habe ich überlegt: Was brauche ich, was nehme ich mit. Komm, lieber zu viel als zu wenig. Mist, das passt doch alles nicht. Ab in den Flieger. Ich hab irgendwas vergessen. Und wie fängt man eigentlich einen Fisch? Ach, das wird schon. Norwegen von oben, das Flugzeug senkt sich.

In Kristiansand erwartet mich Janne vom örtlichen Friluft-Verein. Diese Vereine kümmern sich in Norwegen um die Wildnis und bieten Bildungs- und Freizeitangebote in der Natur an. Von Janne kriege ich eine Angel in die Hand gedrückt, super leicht zu bedienen, einfach Spule auf und zu, ja klar. Jetzt noch schnell zum Angelladen. Der Mann hinter der Kasse angelt schon sein ganzes Leben. Er trägt einen dunkelgrünen Fischerhut mit passender Weste. Langsam kommt er hinter der Theke hervor. “Köder brauche ich”. Er nickt nur still und grummelt. “Für Tag, für Nacht, wie viel Gramm?”, fragt er in gebrochenem Englisch. Ich schaue ihn ratlos an. Wieder grummelt er und fängt an mir einen Haufen Köder einzupacken, mit denen ich wahrscheinlich den ganzen See leerfischen könnte. Ich vertraue ihm aber, wenn er nicht weiß was ich brauche, wer dann? Sein bester Fang wog 13,1 Kilo. Ein wunderschöner Lachs. Optimistisch verlasse ich den Laden. Der Fischer-Mann ruft mir noch “Skitt Fiske” hinterher – gutes Fischen.

Es kann endlich losgehen. 90 Minuten dauert die Fahrt von Kristiansand zu dem See, auf dem ich die nächsten zwei Nächte verbringen werde. Der Ogge liegt in Südnorwegen im Gebiet Aust-Agder. Hier leben im Schnitt zwölf Menschen auf einem Quadratkilometer. Die Straße schlängelt sich endlos durch einen Wald, auf dem Weg begegnen Janne und ich niemandem.  Als wir ankommen, geht alles ganz schnell. Janne zeigt mir mein Kanu. “Hier, ein Ersatzpaddel”, “Hier, ein Eimer falls dein Boot volläuft”. Ein letzter Blick. “Good luck”.

Tag 1

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich alleine zu sein. Es ist, als würde man seinen Kopf unter Wasser halten und auf einmal ist es still. Ich atme tief durch. Langsam beginne ich, mein Kanu einzuräumen. Das Wasser umfließt meine Füße und ich schaue auf die raue Wasseroberfläche. Es ist windig heute. Erst als ich das erste Mal im Kanu sitze, mit dem Paddel in der Hand, alles gut verstaut, realisiere ich, dass es jetzt losgeht. Aber wohin? Ogge ist fast 16 Kilometer lang und hat 360 Inseln. Ich möchte einfach so weit kommen wie möglich und dabei nicht verloren gehen. Als ich in See steche, fühle ich mich wie der Christoph Kolumbus von Aust-Agder, der Bezwinger von Ogge, der Zähmer des kindersicheren Kanus.

Wie ein neugieriges Kind fahre ich jede Insel an, an der ich vorbeikomme. Schnell merke ich aber, dass mir alle nur eines zu bieten haben: Fichten und trockenes Gestrüpp. Während im Norden von Norwegen das raue Wetter eine Landschaft mit hohen Klippen und dramatisch wirkenden Szenerien geschaffen hat, lässt es der Süden etwas ruhiger angehen. Hier geht alles weich ineinander über. Man könnte meinen, dass die vielen Sonnenstunden im Sommer den Süden gebändigt haben. Auch jetzt ist es angenehme 22 Grad warm, Hochsommer für die Norweger. Ab und zu komme ich an Ferienhäuschen vorbei, die sich Einheimische ans Ufer gebaut haben. Weil es aber unter der Woche ist, sehe ich keine Menschen.

Eine Zeit lang lasse ich mich einfach treiben. Ab und zu sehe ich verlassene Rastplätze mit Feuerstellen, doch die meisten Inseln sind unberührt. In den Bäumen hängen Vogelnester von Seeadlern, die mit ihren riesigen Flügeln über den See gleiten. Auf so einer unberührten Insel möchte ich übernachten.  Und wenn ich eines aus den zahlreichen Survival-Shows gelernt habe, dann dass man sich früh genug einen Schlafplatz suchen sollte. Ab 18 Uhr halte ich also die Augen offen nach einer Stelle, die etwas windgeschützt ist, einen guten Zugang zum Wasser hat und eine gerade Fläche für mein Zelt bietet. Auswahl habe ich theoretisch genug, denn in Norwegen gilt das sogenannte Jedermannsrecht. Das heißt, dass man fast überall campen, Feuer machen und angeln darf, wo man will. Dieses Jedermannsrecht ist in der norwegischen Kultur tief verankert und sorgt kurioserweise dafür, dass alle auf die Natur Acht geben.

Ich gehe ein paar Inseln ab und suche nach einer geeigneten Stelle. Viele Orte haben lange keinen Menschen mehr gesehen. Manchmal stehe ich kniehoch im Gestrüpp, überall huschen kleine Tiere hin und her. Anfangs habe ich mich noch immer erschrocken, nach einer Weile beruhigt mich das Knistern: Das hier sind keine ausgestorbenen Inseln, hier blüht das Leben. Als meine Beine von den ganzen Erkundungstouren zerkratzt sind, beschließe ich, nicht mehr weiter zu suchen und lasse mich auf einer kleinen Felserhebung nieder. Mir kommt in den Sinn, dass ich, und wirklich nur ich, dafür verantwortlich bin, wie ich diese Nacht verbringe. Das mag komisch klingen, aber es ist ungewohnt sich nicht rausreden zu können, die Schuld auf niemand anderen zu schieben. Nur meine Entscheidungen haben eine Konsequenz. Und wie ich bald feststellen werde, gibt es so einige Entscheidungen bei der Platzwahl, die schlechte Konsequenzen haben.

Noch aber bin ich guten Mutes und baue schnell mein Zelt auf. So langsam nervt es mich, mit niemandem reden zu können. Also fange ich an laut zu pfeifen und Klassiker mit Fantasie-Lyrics zu singen. Irgendwie habe ich das Zelt falsch aufgebaut. Um durch den Eingang zu gelangen, muss ich mich auf den Boden drücken und vorwärts schieben. Egal. Denn jetzt steht das bevor, auf das ich mich gleichzeitig am meisten gefreut und wovor ich mich am meisten gefürchtet habe. Ich schnappe mir meine Angel und gehe ans Ufer.

Es ist ja nicht so, dass ich keinen Fisch mag oder ich Angeln langweilig finde. Ich habe einfach Schiss vor Fischen. Sie anzufassen während sie zappeln, kann ich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorstellen. Direkt nach meinem ersten Wurf verheddert sich die Angelrute und wie aus dem Nichts bilden sich überall Knoten. Noch so eine komische Sache wenn man alleine ist: Man kann sich nicht richtig ärgern. Es bringt ja nichts herauszuschreien “Ey, wie kacke ist diese Angel denn!” wenn keiner zuhört. Also setze ich mich frustriert hin und mache einen neuen provisorischen Angelknoten.

Nach einer halben Stunde ist es dann so weit. Man soll merken, wenn ein Fisch angebissen hat, man merkt es einfach. Und so ist es auch. Plötzlich geht alles ganz schnell, mein Körper ist voller Adrenalin, was tue ich als nächstes, die Rute einziehen, den Fisch an Land bringen, geschafft. Als ich versuche, den Haken zu lösen, nutzt der Fisch die Gelegenheit und springt zurück ins Wasser. 1:0. Aber ich gebe mich noch nicht geschlagen. Etwas später beißt tatsächlich noch ein Fisch an. Ein Saibling, soweit ich das aus meinem kleinen Fischratgeber entnehmen kann, und nur etwas größer als meine Hand. Ich habe einen Kloß im Hals. Immer wenn ich den Fisch anfassen will, fängt er an zu zappeln. Aber wenn man Tiere isst, sollte man sie auch töten können, richtig? Also fasse ich mir ein Herz, schlage zweimal auf den Fisch ein und schneide den Kopf ab.

Ich habe ein mulmiges Gefühl im Magen. Es war das erste Mal, dass ich etwas Größeres als eine Fliege eigenhändig getötet habe und ich fühle mich nicht gut dabei. Als der Fisch erst einmal leblos vor mir liegt, kann ich besser damit umgehen. Ich nenne das den Supermarkt-Effekt. Ich fange an, den Fisch richtig anzufassen und auszunehmen. Ich habe mir ein paar Youtubevideos angeschaut, wie man einen Fisch richtig ausnimmt und ich muss sagen, dass es noch sehr viel einfacher geht, als es aussieht. Ich weiß, dass ich fertig bin, als das Innenfilet vertraut rosa aussieht. Weil ich von dem einen Fisch nicht satt werden werde, versuche ich noch einmal mein Glück und ein zweiter Fisch beißt nach zehn Minuten an. Nennt es Anfängerglück, aber der Mann vom Angelladen wäre stolz auf mich.

Inzwischen ist es 22 Uhr. Ich brauche noch keine Angst zu haben, dass es dunkel wird. Im Sommer fängt es in Südnorwegen erst gegen Mitternacht an zu dämmern. Ich lege die Fische in meine Fischzange und klemme sie über mein kleines  Lagerfeuer, das ich mit etwas Gestrüpp zum Brennen gebracht habe. Knapp 45 Minuten lang lasse ich mein Abendessen über dem Feuer garen. Dann probiere ich vorsichtig den ersten Bissen. Das Fleisch schmeckt intensiver und frischer als ich es gewohnt bin, richtig gut sogar. Ein Grinsen huscht über mein Gesicht. In dem Moment ist alles perfekt. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass alles so rund läuft. Zufrieden sitze ich neben dem Lagerfeuer und schaue in den wolkenlosen Himmel. Ich weiß, dass das ein Moment ist, an den ich mich lange erinnern werde. Es ist schade, dass ich den Augenblick mit niemandem teilen kann, aber ich bin auch so stolz auf mich.

Tipp des Tages: Lege ein Tuch über den Fisch, dann springt er nicht zurück ins Wasser / Bau dein Zelt richtig auf und du vermeidest Kratzer am Bauch

Tag 2

Morgens werde ich gegen 7 Uhr von der Sonne geweckt. Das Zelt hat sich so aufgewärmt, dass ich rauskrieche und schnurstracks in den See springe. Ich freue mich auf den neuen Tag. Ein bisschen paddeln, die Natur genießen und abends wieder ein paar Fische fangen – daran könnte ich mich gewöhnen.  Zum Frühstück gibt es Reis. Insgesamt habe ich zwei Portionen dabei, eine für jeden Morgen – wenn ich abends keinen Fisch fange, muss ich hungern. Darüber mache ich mir aber keine Gedanken – hat doch gestern alles so reibungslos funktioniert.

So langsam fühle ich mich richtig wohl in der Abenteurer-Rolle. Flink und selbstbewusst bewege ich mich über die Inseln, halte Ausschau nach interessanten Dingen. Nach einer Zeit blende ich alles andere aus und konzentriere mich nur auf meine Wahrnehmung. Dadurch, dass ich alleine unterwegs bin, entwickle ich ein Auge für Dinge, die mir sonst verborgen bleiben. Ein Nest mit Eiern, ein Seeadler oder: Fichtennadeln. Ich möchte mehr aus der Natur verwerten als nur Fische und beschließe, mir aus Fichtennadeln einen Tee zu machen. Kann doch nur gesund sein, oder? Tatsächlich schmeckt er ganz gut und recht süß.

Heute ist es wirklich warm und alle zwei Stunden genehmige ich mir eine Erfrischung im See. Weil ich keinen Zeitdruck habe oder irgendwelche Aufgaben erledigen muss, kann ich alles viel mehr genießen. Ich lausche der Natur. Es ist komisch, keine Autogeräusche zu hören. Vorher ist mir das nie aufgefallen, doch inzwischen sind Motorgeräusche allgegenwärtig. Hier hingegen zwitschern nur ein paar Vögel und der See plätschert vor sich hin. Ich versuche, diese Momente festzuhalten.

Irgendwann fange ich aber wieder an, die Augen nach einem Schlafplatz offen zu halten. Recht schnell werde ich fündig: Direkt am Wasser, aber mit einer schönen Wiese für das Zelt und einem Felsen als Untergrund für das Feuer. Perfekt. Ich springe aus dem Kanu und schaue mir den Platz genauer an. Als ich etwa knöcheltief im Gras stehe, krabbelt plötzlich etwas an meinem Bein herum. Ich gucke an mir herunter und mein Herz bleibt stehen. Meine Füße sind bedeckt von hunderten fingernagelgroßen Ameisen, die zusammen eine braune Schicht bilden. Ich fange an, von einem Bein auf das andere zu springen und mit komischen Schüttelbewegungen, etwa eine halbe Pirouette mit Richtungswechseln im Oberkörper, die Ameisen abzuschütteln. Beim genaueren Hinschauen merke ich: Der Boden ist übersäht mit Ameisenstraßen. Diese Insel wurde schon besetzt, hier kann ich nicht bleiben.

Niedergeschlagen paddle ich weiter. Jede Stelle die ich anfahre, hat irgendwelche Macken. Die Zeit rennt mir davon, ich werde nervös. Schließlich fahre ich in eine Bucht. Hier ist es windstill und es gibt keine Strömung im Wasser. Ich denke mir nichts weiter dabei und hole meine Angel raus. Was kann schon schiefgehen, gestern lief ja auch alles wie am Schnürchen. Eine Stunde vergeht, zwei Stunden vergehen. Zwischendurch verfängt sich meine Angel in einer Seerose und bricht entzwei. Notdürftig klebe ich sie mit Panzertape wieder zusammen, doch egal was ich versuche, es beißt einfach kein Fisch an. Mein fröhliches Pfeifen hat sich längst in wütende Selbstgespräche gewandelt.

Es ist windstill und irgendwann fängt die Luft an zu summen. Mücken lieben windstille. Und meine Nähe. Ständig fliegt ein Schwarm um mich herum. Ich laufe wie wild hin und her, aber die Mücken folgen mir auf Schritt und Tritt. Klar, ich habe Mückenspray dabei, aber ab einem gewissen Zeitpunkt scheint das die Mücken nicht mehr zu interessieren. Ich gebe das Angeln auf, ich gebe den Tag auf. Mein Magen knurrt und ich bin genervt. All die Sachen, die ich dabei habe, die ganze Vorbereitung, trotzdem kann mir nichts helfen. Als mir dann noch meine Kamera auf den Boden fällt und die Linse zerspringt, habe ich genug. Ich habe genug von der Natur, genug von diesem Abenteuerkram. Ich will einfach nur ins Zelt und das alles hinter mir lassen.

Schön wärs. Als ich in das Zelt krieche, folgt mir der Mückenschwarm treu hinterher. Irgendwann höre ich auf, mich einzusprühen. Die Mücken scheinen gegen deutsches Mückenspray immun zu sein. Stattdessen sprühe ich einfach direkt die Zeltwände an, wo sich hunderte von den kleinen Tieren niedergelassen haben. Durch das Mückenspray in meinem Zelt kann ich kaum noch atmen. Ich will einfach nur diesen Tag beenden, ziehe mir meine Kapuze über den Kopf und verkrieche mich im Schlafsack.

Tipp des Tages: Fische beißen nicht aus Mitleid / Kämpfe nicht gegen Mücken, sie gewinnen immer.

Tag 3

Als ich morgens aufwache, bin ich übersäht von Mückenstichen. Es bleibt mir ein Rätsel, wie sie es durch meine Klamotten und den Schlafsack geschafft haben, aber anscheinend haben die Biester echt eine hohe Motivation, mich fertig zu machen. Heute ist mein letzter Tag und ich bin froh darum. Bis zum Abholpunkt habe ich noch eine lange Strecke vor mir und ich möchte diesen Ort so schnell wie möglich hinter mir lassen. Ich bin inzwischen routiniert, packe meine Sachen zusammen und paddle erschöpft dem Abholpunkt entgegen.

Zug für Zug freue ich mich mehr auf eine warme Dusche und ein richtiges Bett. Die Inseln ziehen an mir vorbei, doch ich schenke ihnen kaum noch Beachtung. In den vergangenen Tagen war ich wie in einer Blase gefangen. Ich habe geangelt, am Lagerfeuer gesessen, bin gewandert und habe Tiere beobachtet. Ich habe Dinge erlebt, an die ich im Alltag nie denken würde. Und auch wenn nicht alles perfekt gelaufen ist, war das irgendwie erfrischend. Als ich am Abholpunkt ankomme, werde ich schon erwartet. In diesem Moment tauche ich wieder auf, es wird wieder laut, ich bin nicht mehr alleine mit meinen Gedanken. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich unter Menschen zu sein.

Tipp des Tages: Mache einen Abenteuerurlaub! Es lohnt sich.

Fotos & Video: Justin Wolff

Die Reise wurde unterstützt von Visit Norway, Visit Sørlandet und Gearflix.

Raushier-Reisemagazin

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