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Milano Marittima: Die Utopie der Gartenstadt

Die gut erhaltenen Jugendstil-Villen im Pinienwald von Milano Marittima per Fahrrad zu erkunden, ist mindestens einen Vormittag wert – und vermittelt einen völlig neuen Eindruck von der italienischen Touristen-Hochburg an der Adria, die mehr ist als nur Strand, laute Nächte und Massentourismus.

Prunkstück in Milano Marittima: Villa Palanti aus der Gründerzeit um 1912.

Prunkstück in Milano Marittima: Villa Palanti aus der Gründerzeit um 1912.

Milano Marittima – das klingt aus der Ferne nach italienischem Massentourismus, überfüllten Stränden und lärmerfüllten Nächten. Mag schon sein, aber eigentlich trifft das nur auf den August zu, wenn alle Italiener gleichzeitig für vier Wochen Urlaub am Meer machen. Wer sich erholen will, sollte dann woanders sein. Doch in den anderen Monaten, vor allem von Mai bis Juli, aber auch von September bis November, bietet der schicke Badeort an der Adria zwischen Ravenna und Rimini nicht nur ein angenehmes Klima und lange weiße Sandstrände, sondern so manche überraschende Entdeckung – seien es die Salinen im benachbarten Hauptort Cervia, zu dem Milano Marittima seit fast 80 Jahren gehört, oder rustikale Restaurants wie das 300 Jahre alte „Casa dell’Aie“, in dem noch die typische romagnolische Küche mit viel Herz für Tradition gepflegt wird.

Prägend für den Ort – und wirklich einzigartig – sind auch die hübschen Villen aus der Jugendstil-Zeit, die sich verstreut im Ort unter den wuchtigen Pinien noch finden lassen. Sie zu suchen und zu bestaunen, ist mindestens einen Vormittag wert. Wer, am besten per Fahrrad, gemächlich in die Geschichte eintaucht, wird nicht enttäuscht und landet im historischen Teil von Milano Marittima oft unverhofft vor so einem ehrwürdigen Gemäuer.

Und bekommt vielleicht einen völlig neuen Eindruck der Touristen-Hochburg.

Verstreut unter Pinien: Typische Jugendstil-Vilen aus der Gründungszeit von Milano Marittima.

Verstreut unter Pinien: Typische Jugendstil-Vilen aus der Gründungszeit von Milano Marittima.

Etwas mehr als 100 Jahre ist es her, da schlug die Geburtsstunde von „Mailand am Meer“, wie der Urlaubsort seit damals übersetzt heißt. Wohlhabende Mailänder Familien stellten ihren ausgedehnten, bis dahin unbebauten Grundbesitz an der Küste zur Verfügung. Trotz der Entfernung von gut 300 Kilometern zwischen Mailand und Milano Marittima hatte das gehobene Mailänder Bürgertum ein Faible für diese Küstenregion entwickelt. Im Gegenzug erhielten die „Milanesi“ das Recht, den neuen Ort touristisch zu entwickeln.

Howards Utopie

1907 wurde eine Konvention zwischen der Gemeindeverwaltung von Cervia und den Maffei, einer der wichtigsten Mailänder Bürgerfamilien, geschlossen. Mit diesem Vertrag, stellte die Gemeinde Cervia der lombardischen Gesellschaft ein großes Gebiet von Küstenflächen zur Verfügung, mit der Auflage, darauf Villen, Parks und Gärten zu bauen, um so einen neuen Badeort zu schaffen. Auf den 1. Juni 1911 geht die Gründung der „Società Milano Marittima per lo sviluppo della spiaggia di Cervia“ zurück, eine Gesellschaft, die sich gezielt um die Entwicklung des Küstenstreifens bemühen sollte. Zu der noblen Gesellschaft aus Militärgranden, Anwälten, Künstlern und Adligen zählte auch der Plakatmaler Giuseppe Palanti. Dieser brachte die planerischen Ideen des damaligen Vordenkers Ebenezer Howard mit ein. Dieser britische Utopist schwärmte für die neue Lebensform der Gartenstadt, die mitten im Grünen liegt, ländliche Wohnsiedlungen, Fabriken und alle kulturellen Annehmlichkeiten beherbergt und deren Grundbesitz der Allgemeinheit gehören sollte, um Spekulationen zu vermeiden. Eine schöne Vorstellung.

Die Idee der Gartenstadt geht auf den britischen Utopisten Ebenezer Howard zurück.

Die Idee der Gartenstadt geht auf den britischen Utopisten Ebenezer Howard zurück.

In Milano Marittima entwarf Palanti immerhin das Konzept einer neuen Stadt, deren Touristenhäuser zwei Stockwerke nicht überschreiten und die sich optimal in die sie umgebende Natur einfügen sollte. Es entstand tatsächliche eine kleine moderne Stadt, in der die mittlere lombardische Bürgerschicht ihre Ferien verbrachte; komplett aufgebaut auf einer Serie kleiner, in den üppigen Pinienwald eingebetteter Villen. Eine dieser Villen – heute noch die am besten erhaltene – baute und bewohnte Palanti selbst. Sie liegt an der Ecke Viale E. Toti und Via 2 Giugno. Die „Villa Palanti“, nur wenige Meter vom Meer entfernt wurde um das Jahr 1912 im Liberty-Stil gebaut mit Stuck-Ornamenten, schmalen hohen Fenstern und kleinen Türmchen. An den Außenwänden ist sie mit den für die damalige Zeit typischen exotischen und maurischen Motiven verziert.

Gleich nebenan sowie in den umliegenden Straßen lassen sich noch weitere dieser Villen wie die Villa Lombardozzi, die Villa Malagola und die Villa Carlotta bewundern.

Schlichtere Villen ab 1927

Früher billig, heute immer noch hübsch: Ferien-Villen aus der Zeit ab 1927.

Früher billig, heute immer noch hübsch: Ferien-Villen aus der Zeit ab 1927.

Mehr als ein gutes Dutzend sind es allerdings nicht. Der aufkommende Erste Weltkrieg unterbrach die Entwicklung des Badeortes. Der Baugesellschaft ging bald das Geld aus, und weitere Bauten unterblieben. Ab 1927 wurden dann billigere Villen in einem schlichteren Baustil erbaut, für die sogar ein Teil des Pinienwaldes geopfert wurde. Im gleichen Jahr wurde Cervia, dank der neuen Lokalität Milano Marittima, als Kur- und touristischer Ferienort anerkannt. Damit wurde nicht nur der Bau von Villen im Pinienwald angetrieben. Gleichzeitig entstanden auch die ersten Hotels, Ferienzentren und Restaurants, die ebenfalls interessante Zeitzeugen darstellen, wie etwa das jetzige Best Western Hotel Globus, gegenüber der Villa Palanti.

Heute ist Milano Marittima mit mehreren hundert Hotels längst eine richtige Kleinstadt, die fast ausschließlich vom Tourismus lebt. Vor allem Dank dieser gut erhaltenen architektonischen Perlen – sowie den herrlichen Pinien – vermittelt der Ort als einer der wenigen in dieser Küstenregion eher den Eindruck einer Urlaubsvillen-Landschaft als den einer lieblosen Hotelansammlung.

Die Idee der „Gartenstadt“ ist immer noch zu spüren, besonders intensiv, wenn man mit dem Fahrrad von Villa zu Villa radelt – immer den Duft der Pinien und des Meeres in der Nase und eine leichte Brise im Haar. Wer sich nicht zutraut, die schönsten Villen und historischen Hotels selber zu finden, kann sich gerne an Giorgia Checchi von der Gemeindeverwaltung wenden. Sie hat 2007 zur Hundertjahrfeier alle Villen und Hotels katalogisiert und gibt ihr Wissen gerne an interessierte Gäste weiter.

Raushier-Reisemagazin