Mit dem Rad rollt ein Mann in den mittleren Jahren mit Anglerweste und Hut drei Stufen hinab. Er ignoriert das Hindernis und schaut in die Ferne. Der Radler ist Joseph Beuys, der von der Kunstakademie Düsseldorf entweder zu einem seiner Lieblingskneipen in der Altstadt radelt oder sich auf den Weg macht zu seiner Atelier-Wohnung in Oberkassel. Vom obersten Stockwerk bis in den Keller hinab bugsierte auf dem Rad bereits der junge Joseph in der Klever Hindenburg-Oberschule. Eine seiner Marotten! Seine Mutter liebte sie nicht, zumindest aber brachten sie ihm die Anerkennung seiner Kameraden. Damals nannten sie ihn „Bomber“. Nicht ahnend, dass im Zweiten Weltkrieg ihr Mitschüler in einem Bomber über der Krim abgeschossen wurde. Dieser Abschuss, die legendäre Rettung und Heilung bewirkten, dass Beuys nach dem Krieg seine Zukunft als Künstler sah.
Ob Beuys später aus ökologischen Gründen, immerhin gehörte er zu den Initiatoren der Grünen, zum Radfahrer wurde oder weiter in seinen geliebten amerikanischen Straßenkreuzern kutschierte, wissen wir nicht. Auf jeden Fall hat das Foto „Beuys auf den Stufen der Kunstakademie Düsseldorf“ die Planer des Gedenkjahres zu Beuys‘ hundertsten Geburtstag veranlasst, einen Radweg auf den Spuren des Künstlers von Kleve, über Duisburg, Krefeld und Düsseldorf nach Leverkusen zu konzipieren: „Beuys ohne Berge“. Die Tour berührt wichtige Stationen seines Lebens und Schaffens, steuert zahlreiche Orte mit Beuys‘ Ausstellungen an und führt durch die herrliche Landschaft des Niederrheins. Für die Strecke von fast 300 Kilometern werden 21 Stunden Fahrzeit veranschlagt. Wenn man sich allerdings die Museen, die Ausstellungen und noch andere interessante Objekte anschaut, werden daraus mindestens drei- bis viermal so viele Stunden. An einem langen Wochenende haben wir es von Kleve nach Duisburg geschafft. Von dort führt der Radweg nicht mehr entlang des Rheins, sondern mäandert durch die niederrheinische Ebene. Deshalb wechseln wir für die restliche Strecke vom Rad zum Auto.
Auswärtige Besucher ohne Rad können an über 30 Stellen entlang des Beuys-Weges Räder mieten; in Kleve etwa an zwei NiederrheinRad-Stationen in der Nähe von Hotels. Möglichkeiten zum Übernachten und Essen gibt es unterwegs mehr als genug. Man braucht also keineswegs die Strecke in einem Zug zu radeln, sondern sollte das Gebotene genießen. Schon der Start in Kleve hängt unmittelbar mit Beuys‘ Leben zusammen. Hier hat er in der Nähe von Margarine-Werken und Schuhfabriken seine Kindheit und Jugend verbracht und aus dieser Umgebung mag seine Vorliebe für Fett und Filz rühren.
In Kleve geht es nicht hinauf zur Schwanenburg, dessen Turm ein goldener Schwan krönt. Der Schwan verweist auf Lohengrin, den sagenhaften Stammvater der Klever Grafen und zugleich auf Beuys, der sich selbst als einen Sohn und Erben Lohengrins gesehen hat. Dies lässt sich an Zeichnungen und Bildern nachprüfen im Museum Kurhaus. Hier befand sich in den fünfziger Jahren ein Beuys‘ Atelier. Durch Vermittlung seines Vaters konnte Beuys in dem abbruchreifen Friedrich-Wilhelm-Bad Räume im Erdgeschoss mieten, um darin den Auftrag für das Büdericher Ehrenmal zu verwirklichen. Das Atelier gab Beuys auf, als er eine Professur in Düsseldorf erhielt und in der Akademie ein Atelier bezog. Mittlerweile ist das ehemalige Kurhaus wunderbar wiederhergestellt und beherbergt ein Museum, das neben Werken von Beuys vor allem die seines Lehrers Ewald Mataré ausstellt. Das Beuys‘ Atelier wurde originalgetreu rekonstruiert und mit Leihgaben seiner Erben bestückt. Beuys könnte also jederzeit die Räume wieder betreten und weiter arbeiten.
Ist man nicht zu erschöpft, geht man vom Museum ein paar Schritte und wirft einen Blick auf die einstige Wohnung der Familie Beuys in der Tiergartenstrasse 101. Nach dem Tod von Beuys‘ Vater gab die Mutter Johanna Maria Margarete, geborene Hülsermann, diese Wohnung auf und zog zu ihrer Familie in Voerde-Spellen. Auf den Weg zu einem Restaurant in der Klever Innenstadt passiert man Beuys‘ frühere Schule, die er ohne Abitur verließ. In der Hindenburg-Oberschule fuhr, wie sich Franz Joseph van der Grinten erinnert, Beuys mit dem Rad über die Stufen der großen Treppe. In ihrem Kranenburger Bauernhaus richteten die van der Grintens 1953 die erste Ausstellung von Beuys‘ Werken aus.
Anderntags ging es mit dem Rad in die niederrheinische Landschaft, die, wie Beuys erzählte, prägend für ihn war. Er habe als Heranwachsender wie ein Schafhirte mit einem Hirtenstab das Gelände durchstreift. Das erinnert sehr an seine späteren Aktionen mit dem „Eurasienstab“. Schäfer sahen wir nicht, nur Kühe, die friedlich grasten. Doch die Idylle der Landschaft wich zu rasch einem Beuys‘ Highlight: dem Museum Schloss Moyland. In dem Schloss aus dem 14. Jahrhundert trafen sich 1740 Friedrich II. von Preußen und der französische Philosoph Voltaire. Nach Beseitigung der Kriegsschäden und dem Umbau zum Museum sammelt Moyland schwerpunktmäßig Beuys und ein wissenschaftliches Institut mit Archiv beschäftigt sich mit ihm. Vor Eintritt ins Schloss durchquert man einen Park, der gut Beuys‘ frühe Interessen spiegelt. Der junge Joseph begeisterte sich nämlich für Pflanzen, Gräser, Bäume, Sträucher und Pilze sowie für Mäuse, Fliegen, Spinnen, Fische und Frösche. All dies findet man in seinen Werken und Aktionen wieder.
Von Moyland erreichen wir auf autofreien Wegen die Stadt Kalkar, in dessen Nähe der nie ans Netz gegangene „Schnelle Brüter“ steht. Heute beherbergt der Betonklotz einen Freizeitpark und ein Hotel (www.wunderlandkalkar.eu). Wen die atomare Vergangenheit nicht stört, kann hier nächtigen und aus der Nähe das Alpenpanorama auf dem riesigen Kühlturm bewundern.
Statt der Industriebrache bevorzugten wir die Sankt Nicolaikirche mit ihren Kunstwerken aus der Spätgotik und Frührenaissance. Die Altäre und Skulpturen von Hendrik Douvermann, Arnt von Zwolle oder Arnt van Tricht sind einfach unvergleichlich schön und zählen zu den bedeutendsten Zeugnissen der Kunst um 1500 in Deutschland. Auch Beuys ist in Kalkar zu sehen. Auf dem Friedhof steht für Heinrich Nauen eine Replik – das Original ist im Stadtmuseum – des Grabsteins, den Beuys und Ewald Mataré geschaffen haben. Den Tag lässt man dann im historischen Ratskeller ausklingen.
Auf der Strecke von Kalkar nach Voerde oder Duisburg gerät Beuys ein wenig aus dem Blick, stattdessen ist Kondition gefragt. Autofrei verläuft der Radweg zumeist auf dem Rheindeich, von dem die unterschiedlichsten Schiffe und unzählige Vögel zu beobachten sind. Und man blickt und genießt die weite niederrheinische Landschaft. Die Wallfahrtsorte Marienbaum und Ginderich mit dem höchste Bauwerk in NRW – 320,8 Meter misst der Sendemast – vernachlässigt der Beuys-Weg eben so wie den Luftkurort Xanten mit seinen Sehenswürdigkeiten: den Archäologischen Park (APX) samt LVR-Römermuseum, den gotischen Sankt-Viktor-Dom mit der Darstellung der Wurzel Jesse im Marienaltar, einem Meisterwerk von Heinrich Douvermann, sowie das Stiftsmuseum. Entgegen dem Routenplan wechseln wir bei Xanten mit der Personen- und Fahrradfähre von der linken auf die rechte Rheinseite. Die Fahrt geht weiter entlang des Rheins durch Wesel und dem Naturschutzgebiet Lippemündung bis Voerde.
Aus Spellen, ein Ortsteil Voerdes, stammte Beuys‘ Mutter, eine geborene Hülsermann. Die Hülsermanns betrieben früher eine Schmiede und Eisenwarenhandlung und führen noch heute ein Haushaltswarengeschäft. Von hier könnten Objekte in Beuys Installation „Barraque D’Dull Odde“ gelangt sein. Sicher ist, dass der Vetter, Norbert Hülsermann, Objekte für Beuys geschmiedet hat und auch andere Voerder Handwerker ihm zugearbeitet haben. Selbst als anerkannter Künstler beteiligte sich Beuys an den Spellener Schützenfesten und „nahm ein „Gläschen in die Hand. Vive la Compagneia!“ Mit kühlen Hellen und mehr lockt auch der schöne Biergarten des Walsumer Brauhauses (www.brauhaus-urfels.de).
Diese Beuys-Tour endet im Wilhelm-Lehmbruck-Museum Duisburg, wo 1986 fünf Tage vor seinem eigenen Ende Beuys den renommierten Lehmbruck-Preis erhielt. In seiner Dankesrede betonte er, Lehmbruck sei sein Vorbild gewesen. Er habe 1938 bei einer Bücherverbrennung auf dem Hof seines Gymnasiums einen Katalog mit Reproduktionen von Skulpturen Lehmbrucks vor der Vernichtung gerettet. Die Entdeckung Lehmbrucks habe ihn tief bewegt und das Formerlebnis zeitlebens nicht mehr losgelassen. Weil die Beuys-Tour über Düsseldorf, Krefeld bis Leverkusen mit dem Rad weniger ruhig und gemütlich zu fahren ist, werden wir den zweiten Abschnitt mit einem Verbrenner-PKW unternehmen. Bestimmt würde Beuys energisch fordern, auf ein Elektroauto mit seiner „Capri-Batterie“ als Antrieb umzusteigen.