„Der Wind steht schief. Die Luft aus Eis. Die Möwen kreischen stur. Elemente duellieren sich.“ Wer diese Art von Nordsee – keiner besang sie schöner als Grönemeyer – erleben möchte, fernab der Bussigesellschaft von Sylt, der muss nach Dithmarschen reisen, ganz weit in Schleswig-Holsteins Südwesten.
Bügelflaches Land in zahlreichen Grün-Schattierungen, meist unter einem weiten, wolkenreichen Himmel, durch den einzelne blaue Flecken durchscheinen wie die Gischt auf den Wellen. Ein Land, vollständig umschlossen von natürlichen Grenzen: Im Süden die Elbe, im Osten der Nord-Ostsee-Kanal, im Norden die Eider und im Westen schließlich die Nordsee. Menschen leben hier, die man sich abseits des Meeres nicht vorstellen könnte.
Ein besonderer Menschenschlag
Einer von ist Dierk Reimers: wasserblaue Augen, schlohweißes Haar und ein von Wind und Wetter gegerbtes Gesicht. Seit über 30 Jahren führt er Fremde durch das Watt vor der Küste seiner Heimat. Reimers kennt jeden Priel, jene oft mäandrierenden Wasserläufe im Watt mit ihren tückischen Tiefen. Und den Augenblick, wenn er den Reisenden das Zeichen zum Umkehren geben muss, um nicht von den unaufhaltsam zurückdrängenden Wassermassen überrascht zu werden, diesen Moment hat er im Blut.
Wattführer sind mehr als Touristenführer, sie sind auch Naturschützer und Heimatforscher. Denn das Watt ist eine Umweltfibel, ein lebender Seismograph. Ökologische Veränderungen lassen sich hier früher ablesen als beim festen Land, die Farbe des Sandes, die Häufigkeit der Wattwürmer, alles gibt Aufschluss.
Im Dienst der Natur stehen auch die Männer und Frauen in Friedrichskoog, wo eine Seehundstation Besucher anlockt und beiden, Tieren wie Menschen, einen Moment des Verschnaufens gönnt in der bedrohten Natur, zum wechselseitigen Gewinn, wie zumindest die begeisterten Kinder im Augenblick der Fütterung bezeugen.
Kulturfreunde sollten sich in der Stadt Wesselburen umschauen. Die Kirche St. Bartholomäus ist eine architektonische Besonderheit, obwohl aus Backstein errichtet und erzprotestantisch genutzt, besitzt sie ein an Oberbayern erinnerndes Zwiebeltürmchen, das einzige dieser Art nördlich der Elbe.
Das Hebbel-Museum wiederum, gewidmet dem Schriftsteller Friedrich Hebbel (1813 bis 1863), Verfasser des Trauerspiels „Die Nibelungen“, befindet sich im Wohn- und Amtshaus des ehemaligen Kirchspielvogts – eine Art Bürgermeister –, in dem Hebbel in seiner unglücklichen Wesselburener Jugend arbeitete. Ein Teil der historischen Inneneinrichtung ist erhalten. Im Gebäude finden sich eine Sammlung zu Hebbel und insbesondere eine umfangreiche Forschungsbibliothek über den Dichter.
Das Leben hinter den Deichen
Hinter den Deichen, auf denen zu beinahe jeder Witterung die Schafe grasen und den Boden feststampfen, als Schutz gegen Sturmfluten, da beginnt das eigentliche Leben in der Marsch: manchmal wortkarg, aber immer herzlich. Die Existenz der Menschen ist geprägt vom Kohlanbau. Hier befindet sich das größte geschlossene Anbaugebiet der Welt. Ein Volksfest ist jedes Mal der Anschnitt, der erste geerntete Kohlkopf der Saison. Ehrensache, dass der Ministerpräsident persönlich oder wenigstens der Landwirtschaftsminister dazu das Messer führt. Dann füllen sich die Höfe und Gasthäuser mit den zahlreichen hungrigen Urlaubern aus ganz Deutschland. Verarbeitet wird das vitaminreiche Gemüse in unterschiedlichsten Speisevarianten, von der herzhaften schlichten Suppe bis zur sternegekrönten edlen Kreation.
Selbst puhlen lautet die Devise
Neben dem Kohl bestimmen die Krabben die Ernährung hier im Nordwesten. Vom Büsumer Hafen tuckern die Kutter hinaus aufs Meer. Frisch können die Reisenden den Fang dann gleich vom Schiffsdeck weg erwerben. Selbst puhlend sitzen sie später auf der Mole. Und selbst puhlen empfiehlt sich auch, denn im Gegensatz dazu haben die bereits gepulten Krabben oft eine lange Reise hinter sich, nicht selten werden die Tierchen in gekühlten Trucks bis nach Osteuropa oder Nordafrika gekarrt, um dort, der geringeren Lohnkosten wegen, von der Schale getrennt und dann wieder zurück gebracht zu werden.
Bleibt der Himmel bis zum Abend klar, bietet sich vom Büsumer Strand aus ein wunderschöner glutroter Sonnenuntergang. Optimal, wenn dieser dann auch noch zeitlich mit der Flut zusammenfällt. Erst ganz leise rauschend, dann immer stärker kehrt das Wasser zurück, ein Kreislauf seit Äonen, und doch immer wieder faszinierend, bis es das Land erreicht und sich peitschend am Ufer bricht.
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