„Gehst du Türkei oder gehst du Aldi?“ Die Reaktionen waren gemischt, als ich von meinem Vorhaben erzählte, der türkischen Mittelmeerküste per Liegerad zu folgen. Viele warnten mich: Ich würde unterwegs von Lastwagen in Straßengräben gedrängt, von Hunden zerfetzt, von der PKK in die Luft gesprengt, von Syrern beschossen und mein geklautes Liegerad auf den Basaren suchen. Da mich Widerspruch aber stets stärker antreibt als jeder gute Ratschlag, stehe ich jetzt im Garten eines Hotels in ĺzmir und blicke auf meine Errungenschaft herab: ein windschnittiges „Trike“ der tschechischen Firma AZUB, das mir zwar nur knapp übers Knie reicht, dafür aber stolze zweieinhalb Meter lang ist und aussieht, als habe mein Vorwärtsdrang Gestalt angenommen.
Ohne allzu große Kraftanstrengung schieben meine Beine das Liegerad vorwärts. Alle fünf Minuten überholt mich ein Auto. Sein Fahrer hupt dann, lässt das Fenster herab und fotografiert mich. Bald zieht ein VW-Bus vor mir auf die Standspur. Der Fahrer reißt die Tür auf. „Allahu akbar!“, ruft er, als er auf den Boden springt, „Gott ist groß!“ Fünf Jahre sei er auf Kreuzfahrtschiffen um die Welt gezogen, vertraut er mir in einem amerikanisch gefärbten Englisch an, ein solches Gefährt aber habe er noch nirgendwo gesehen. Wenig später entfährt ihm ein Satz, der mir fortan als Leitspruch für die Reise dient. Der Fahrer zeigt auf die Berge, die sich mir im Süden halbkreisförmig in den Weg stellen. „Behind those mountains“, beginnt er, und ich meine den Hauch einer Genugtuung um seine Mundwinkel spielen zu sehen, als er fortfährt, „there are more mountains“. Hinter diesen Bergen erheben sich also weitere. So sollte es von nun an immer sein.
Sollten Sie je in die Situation geraten, auf einem Liegerad zu fahren, werden Sie sich an Go-Karts auf Jahrmärkten erinnert fühlen. Nur ist alles eben viel bequemer: Ich fläze in einem geflochtenen Netz, Gegenwind kann mir wenig anhaben. Eine Kopfstütze hält meinen Nacken in der Vertikalen. Das ist altersgemäßes Radfahren für erfahrene Reisebuchautoren! Es sei denn, es geht bergauf: Dann lösen sich die Vorteile des Liegerads in Luft auf, und ich kann zusehen, wie der Tachometer einstellige Zahlen zeigt, bis er bei vier Stundenkilometern festgetackert zu sein scheint. Nach dem dritten Anstieg nenne ich mein träges Liegerad daher „Garfield“.
Zweitgünstigstes Hotel von Söke
Nach einer weiteren Bergtour frage ich in Söke einen Verkehrspolizisten nach dem günstigsten Hotel der Stadt. Er werde mir den Weg zum zweitgünstigsten zeigen, bedeutet er mir. Das günstigste sei Deutschen nicht zumutbar. Das zweitgünstigste Hotel von Söke heißt „Palast von Ephesus“ und scheint ungefähr zur selben Zeit wie die antike Stätte erbaut worden zu sein. Leider wurde seither nicht allzu viel investiert. Trotzdem fühle ich mich auf Anhieb pudelwohl. Warum sollte ich die Fenster auch schließen können, wenn es draußen doch warm ist? Was ist eine gemusterte Tapete gegen die Kunstwerke, die der Schimmel in grauschwarzen Farben an die Wände gemalt hat? Und was vermöge mir schon ein Fernsehprogramm zu bieten, verglichen mit den Ereignissen im Zimmer unter mir, die ich durch ein faustgroßes Loch im Boden beobachten kann?
Statt livrierten Bediensteten, die servicebeflissen im Eingangsbereich auf und ab gehen, sitzt auf der untersten Treppenstufe des „Palasts von Ephesus“ ein grauhaariger Mann. Er versteht weder Deutsch noch Englisch, weist aber ein wunderbares Lächeln auf, das seine vier Schneidezähne, die einzigen, die ihm geblieben sind, besonders gut zur Geltung bringt. Als ich Anstalten mache, Garfield am Treppengeländer festzubinden, winkt der Alte ab. „Glaub mir, dein Rad kannst du getrost vor Hotels und Restaurants stehen lassen, ohne es abzuschließen! Wozu sollte das jemand stehlen? Um damit in der Gluthitze herumzufahren? Nein, mein Freund“, schließt er, „so was machen doch nur Deutsche!“
Das Genie von Milas
Der Muezzin entdeckt die Sonne im Osten und ruft zum Gebet, als ich weiterfahre. Gegen Mittag verwandeln sich die Mittel- und Seitenlinie der Nationalstraße in die glühenden Fäden eines Toasters. Beidseitig werde ich gebraten: von der Sonne über mir und dem glühend heißen Asphalt unter mir. In Milas beginnt Garfields Lenker unvermittelt zu wackeln. Im nächsten Augenblick fällt er scheppernd zu Boden. Die ihn haltende Schraube ist in zwei Teile zerbrochen. So komme ich nicht weiter. Ich trete in das erstbeste Hotel der Stadt und wende mich an den adretten jungen Mann an der Rezeption. Noch bevor ich ein Wort sagen kann, wird mir klar, dass der Rezeptionist meine Situation schon erfasst hat. „Komm mit mir“, sagt er. Fünfzehn Minuten fahren wir auf seinem Moped kreuz und quer durch Milas, noch immer trage ich die Einzelteile meines Lenkers in den Händen. In einer heruntergekommenen Garage sägt, schleift und lötet der Rezeptionist eine halbe Stunde lang an der Schraube herum. Dann fährt er mich zurück zum Hotel. Für die Arbeit samt Anfahrt bezahle ich umgerechnet zwei Euro. Von hier an sollte ich nie wieder Probleme mit Garfields Lenker haben.
Bei Nikolaus zu Hause
Mit der Reiseroute hingegen schon: Hinter Kaş erhebt sich die Straße dermaßen steil, dass ich am Hang klebenbleibe, als habe sich unter mir ein Laufband in die entgegengesetzte Richtung meines Fahrtziels in Bewegung gesetzt. Die Erde schwitzt aus allen Poren, von überall her riecht es nach Nässe. Die Wolken werfen sich schwarze Mäntel über und weinen sich an den Bergen aus, die ich gemeinsam mit Garfield erklimme. Im Nu bin ich bis auf die Unterhose nass. Schemenhaft erkenne ich Felswände, unscharf zeichnen sich die Spitzen des taurischen Gebirges gegen den Himmel ab, ein helleres Grau vor einem dunkleren. Es geht noch immer bergauf; zwanzig, dreißig Kilometer weit. Sechseinhalb Stunden lang keuche ich wie ein Besessener. Das Sonntagsradeln von ĺzmir ist vorbei. Das hier ist der Montagmorgen nach der Party. Doch plötzlich kippt die Straße vor mir ins Bodenlose. Ich lasse ich mich den Berg hinabfallen, der Stadt Demre entgegen. Dort gelange ich zur schokoladenbraunen Statue eines beleibten Mannes mit Rauschebart. Tatsächlich ist der Nikolauskult auf den Bischof von Demre, dem damaligen Myra, zurückzuführen – auch wenn nicht gesichert ist, dass er wirklich junge Frauen vor der Prostitution bewahrte, indem er Goldklumpen durch den Kamin in die darin zum Trocknen aufgehängten Socken warf. Mir jedenfalls gibt er die Kraft, die vor mir liegende Wegstrecke zu meistern. Und die hat es in sich.
Unterstützt von Milliardenkrediten der Weltbank begann man in den Neunzigerjahren, den Küstenstreifen um Antalya herum nachhaltig zu verändern. Wo einst gewachsene Dorfgemeinschaften vorherrschten, verfrachtet man heutzutage Schnäppchenjäger in gigantische Hotelkomplexe, die wie vom Himmel gefallen in der Landschaft stehen. Zentrum dieses Wahnsinns ist die Stadt, auf die ich in einer langgezogenen Linkskurve einen ersten Blick erhasche. Mein Gott! Antalyas Häuser ziehen sich bis zum Horizont entlang einer kilometerlangen Bucht. Im Stadtzentrum summen Mopeds wie ein Wespenschwarm. Autofahrer rufen mir Unverständliches zu, Fußgänger hechten auf die Straße. Ich muss jederzeit aufpassen wie ein Schießhund. Genauso sollte es mir mit dem Rest des A-Teams gehen, das sich an der türkischen Mittelmeerküste aufreiht: Auch in Alanya, Anamur und Adana lege ich mehr als nur eine Vollbremsung hin.
„Möge Allah dir Flügel verleihen!“
Einmal mehr brausen Jugendliche auf Motorrädern heran. „Facebook, Facebook“, rufen sie frenetisch und richten ihre Mobiltelefone auf mich. Wahrscheinlich bin ich im türkischen Internet bereits eine Berühmtheit. Um dem Trubel zu entfliehen, biege ich zur Ovacık-Bucht ab, einem versteckten Fleckchen mit genau einer geöffneten Pension. Dort treffe ich auf Mustafa. Zweieinhalb Jahre hat er in den Vereinigten Staaten Autos konzipiert, danach in Hamburg ein Logistikunternehmen aufgebaut. Jetzt genießt er seinen Lebensabend, blinzelt in die Sonne und streicht sich bisweilen über seinen stattlichen Bauch. Bis tief in die Nacht unterhalten wir uns bei einem wunderbaren Abendessen. Als ich Garfield tags darauf startklar mache, ruft Mustafa mir anfeuernd hinterher: „Möge Allah dir Flügel verleihen!“ Damit kann nichts mehr schiefgehen.
Das heißt, fast nichts. Eine letzte Herausforderung muss ich noch meistern – die größte von allen.
„Dreieinhalb Kilogramm, effendi. Ihr Paket ist dreieinhalb Kilogramm zu schwer.“
Der Postangestellte lässt nicht mit sich verhandeln. Also ritze ich den sorgfältig gepackten Karton wieder auf und hole Garfields Hinterrad, die Pedale und eine Satteltasche heraus. Im Laden eines Freundes des Cousins des Postbeamten packe ich die restlichen Teile in einen zweiten Karton und trotte zur Postfiliale von Antakya zurück.
„Wo soll das alles denn jetzt hingeschickt werden, effendi?“
„Nach Tschechien.“
„Ein solches Land gibt es nicht. Liegt dieses Tschechien vielleicht in Deutschland?“
So komme ich nicht weiter. Ich versuche, das Zielgebiet einzukreisen und verlange Papier und Stift.
„Also, hier ist Europa, in Ordnung? Dann haben wir hier Ungarn. Nordwestlich davon ist Polen. Und dazwischen liegt …“
„Çek Cumhuriyeti!“
Endlich ist der Groschen gefallen.
„Oh ja, dorthin kehrt Garfield jetzt zurück!“
„Wer?“
„Nicht wichtig. Bitte schicken Sie einfach die beiden Pakete dorthin.“
Wehmütig blicke ich Garfield hinterher, als er ein Etikett auf seine Kartons geklebt bekommt und anschließend in den Frachtraum des Postamts gebracht wird. Er wird schon wohlbehalten in Tschechien ankommen, inşallah. Einmal mehr ist unterwegs alles gut gegangen. Mehr noch: Ich habe mich täglich von einer Welle der Gastfreundschaft getragen gefühlt, bin mit Obst, Tee und Anfeuerungen bedacht worden und wusste, dass ich, wenn es darauf ankäme, jederzeit auf die türkische Hilfsbereitschaft zählen konnte. Die „Marktschreier der Angst“ haben Unrecht behalten. Reisen, das wusste bereits Mark Twain, ist eben tödlich für Vorurteile.
Thomas Bauers Reisebuch „Möge Allah dir Flügel verleihen – Per Liegerad durch die Türkei“ ist soeben im Drachenmond Verlag erschienen. Weitere Informationen: www.literaturnest.de
Route: Etwa 1.500 Kilometer sind es von ĺzmir durch die Ägäis, Lykien, die „türkische Riviera“, Kilikien, die Çucurova und das Hatay bis nach Antakya.
Liegerad: „Garfield“ ist ein knapp 20 kg schweres Tricon-Liegerad aus Aluminium des tschechischen Anbieters AZUB. Mehr Informationen: www.azub.eu
Kosten: In der Nebensaison (der Autor war im November unterwegs) inklusive Flug ca. € 2.000.- für 4 Wochen
Tipps für unterwegs
- Phaselis: direkt am Meer gelegene Überreste einer antiken Stadt ca. 50 km südwestlich von Antalya, wunderschöner Blick vom Theater auf die umliegenden Berge
- Anamur: südlichster Punkt der Türkei, langgezogene Sandstrände zwischen dem antiken Anemurion und der Vorzeigeburg Mamure Kalesi
- Hamam von Antakya: Hier wird Mann für einen überaus fairen Preis ausgiebig geschrubbt, gereinigt und massiert.
Bloß nicht!
- Reisen im August: In der Hauptsaison sind Temperaturen und Preise deutlich höher als sonst.
- In „touristischen Restaurants“ essen: Wer Restaurants aufsucht, die mit „alkoholischen Getränken“ werben und blasshäutige Passanten hereinwinken, kann davon ausgehen, das Doppelte bis Dreifache des ansonsten üblichen Preises zu berappen – und der Rakı schmeckt im Einheimischen-Lokal trotzdem besser!
- Die Gastgeber beleidigen: Witze oder herabsetzende Bemerkungen über die Türkei, insbesondere über die türkische Flagge, sind tabu.