Mit seiner rustikalen Art am Lenkrad verdrängt Vincent die Ängste, die den einen oder anderen unter dem Dach des Geländefahrzeugs beschleichen, weil das Ziel der Fahrt auf den aktiven Vulkan Piton de la Fournaise führt. Sicherlich wäre Vincent einer der Hauptdarsteller des Rennens römischer Kampfwagen im Monumentalklassiker Ben Hur geworden, wenn er nicht heute auf La Reunion Touristen mit Informationen versorgen und sie zudem zu den Sehenswürdigkeiten der französischen Insel im Indischen Ozean kutschieren würde.
Während die Zigarette sich bis auf wenige Zentimeter auf den Schmelz seiner gleichfarbigen Zähne zurückgebrannt hat, weist er auf den Krater des Vulkans, der in den Tagen dieses Besuchs die Lava brodeln lässt. Die wäre auch sichtbar, wenn sich nicht der kleinere der beiden Vulkane der Insel im Nebel versteckt hätte. Nur schemenhaft sind die Umrisse des Kraters erkennbar, den man bis zum Rand betreten darf. „Niemand muss Angst haben“, klärt Vincent die Lage, „die Wissenschaftler haben ein gut funktionierendes Alarmsystem installiert.“
Ein exotisches Reiseziel
La Reunion gehört zweifellos zu den exotischsten Reisezielen dieser Erde und zählt seit der Kolonialzeit zu Frankreich – und somit jetzt zur EU. Diese Zugehörigkeit lässt sich an vielen Stellen ablesen und hat offensichtlich auch dafür gesorgt, dass alle sehenswerten Ziele der Insel bequem mit Fahrzeugen erreicht werden können. Mit einer Ausnahme. Diese Ausnahme ist ein Hochplateau, auf dem die fruchtbare Erde einige Menschen siedeln lässt, die diesen Vorteil mit dem Preis beschwerlicher Wege bezahlt. Mafate heißt diese Caldera am Fuße des Piton des Neiges, den die Kreolen auf La Reunion nur Schneeberg nennen.
Ein Fußweg aus Mafate führt nach knapp zwei Stunden auf eine befestigte Straße, woraus sich Beschwerlichkeiten der Einwohner ableiten lassen. Aber es spricht für die Gelassenheit und Gottergebenheit der Bevölkerung, diesen Zustand als nur allzu gewöhnlich zu betrachten. Bis vor ein paar Jahren haben noch Träger die Güter in den Ort befördert, die dort benötigt wurden. Für Lastentiere sind die Wege zu steil.
Unbeschreibliche Schönheit
Auf der anderen Seite der Schlucht befindet sich die malerische Ortschaft Salazie. Hier ist merklich, dass es nicht an einem befestigten Zugang fehlt, obwohl hier schon einmal eine Straße in die Tiefe fallen kann. Eine Laune der Natur, die sich nicht von Menschen beikommen lässt, wenn sich Erosionen, vulkanische Aktivitäten oder auch die exorbitanten Ansammlungen von Wassermassen ihre Wege bahnen.
So hat sich die Natur auf der Insel La Reunion einen Platz geschaffen, in dem sie sich ausgetobt hat und den Wanderern und Naturfreunden ein Gebiet dargelegt, das vor unbeschreiblicher Schönheit strotzt. Ob Regenwald, Naturstrand mit weißem Sand und Korallenriffen oder subtropische Flora – eine Woche staunende Erforschung der Insel reicht zumeist nicht aus. Für die Wanderer erschließen sich über tausend Kilometer gut ausgebaute Wege, auf denen unterschiedliche Schwierigkeitsgrade gemeistert werden wollen.
Schindelbauten im kreolischen Stil
Mit ihren Netzen haben die Spinnen von La Reunion den Forschern die Vorlage für das schusssichere Kevlar gegeben. Kevlar ist eine hitzebeständige und starke synthetische Faser – Foto: Kurt SohnemannEigentlich sollte der Blick auf die Schindelbauten im kreolischen Stil gerichtet sein, die die Ortschaft Hell-Bourg im Talkessel von Salazie prägen. Doch dann zeigt Katrin das erste Mal, dass ihr Zahnarzt beim nächsten Besuch den Sechser unten links gegen Karies behandeln muss. Mit offenem Mund steht die Besucherin der malerischen Ortschaft auf La Reunion vor einem Spinnennetz, deren Schöpferin unübersehbar in selbigem auf Beute wartet und die Größe eines kleinen Vogels erreicht. Die Starre der Betrachterin lässt merklich nach, als Freddy verkündet, es würde auf der französischen Insel im Indischen Ozean keine giftigen oder für Menschen gefährlichen Tiere geben. Freddy ist Fremdenführer und passionierter Musiker auf La Reunion.
Dieses Refugium für florale Maßlosigkeit gibt schon bei der Ankunft der Besucher auf dem Flughafen zu erkennen, dass es sich in dem subtropischen Klima nicht um eine ganz normale Vegetation nach europäischen Maßstäben handelt, obwohl die Insel aus Europa regiert wird. In ihrer wechselvollen Geschichte fiel La Reunion zwar einst in britische Hände, wurde aber später an die Franzosen zurückgegeben, die sie 1638 erstmals mit menschlichem Leben füllte. Heute sind es etwa 880 000 Einwohner, die auf La Reunion überwiegend vom Rohrzucker, dem daraus gewonnenen Rum oder auch von den exotischen Gewürzen und Früchten der Insel leben.
Die begehrteste Frucht: Bourbon-Vanille
Während der Anbau und die Ernte von Zuckerrohr aufgrund der schwierigen geologischen Formationen weitgehend mit der Machete stattfindet und relativ unromantisch von statten geht, lassen Pflanzen wie Vanille, Guaven, Jackfrüchte, Chouchou oder Muskatnüsse und Victoria-Ananas Gourmets das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Schon der ehemalige Name der Insel Bourbon lässt auf die begehrteste Frucht der Insel schließen. Bourbon-Vanille zählt in den Küchen dieser Welt als eine besondere Delikatesse und wird auf La Reunion mittlerweile so gezüchtet, dass die Schoten der Orchideenfrucht nicht mehr ausgekratzt werden müssen. „Sie können die gesamte Schote vollständig verwenden. Sie besticht durch ihre unvergleichliche Intensität“, versichert Stani, der sich auf der eigenen Plantage um die Zucht, Ernte und natürlich die vielen Besucher kümmert, die Informationen haben möchten.
Jetzt muss es schnell gehen
Diese anspruchsvolle Art der Orchideen erfordert eine einzigartige Geschwindigkeit der besonderen Art. Wer Vanilleschoten an den Pflanzen haben will, muss innerhalb eines halben Tages die Blüten mit technischer Feinfühligkeit und Fingerspitzengefühl bestäuben. Der Samen der männlichen Pflanzen werden von fingerfertigen Frauen dann in kürzester Zeit den weiblichen Blütenständen verabreicht. „An einem Vormittag schafft eine Frau es dann, bis zu 1500 Blüten zu bestäuben“, beteuert Stani, der Mitbesitzer der Sechs-Hektar-Plantage ist. Nur einmal pro Jahr blüht die Vanille-Orchidee jeweils einen halben Tag, dann ist Tempo angesagt. Somit erklärt sich der Grund der angemessenen Preishöhe. Stani erklärt: „Nur die hochdekorierten Küchenchefs kaufen die echte Vanille, viele andere weichen auf Substitute aus industrieller Fertigung aus.“
Vanille Bleue heißt das Produkt dieser Kooperative mehrerer Landbauer von der Vulkaninsel. Erst durch das subtropische Klima wird das Wachstum der breitwurzelnden Pflanze möglich, die Schatten und hohe Temperaturen bei hoher Luftfeuchtigkeit benötigt.
Die Vanilleschoten, die den europäischen grünen Bohnen ähneln, werden nach dem Pflücken in grünem Zustand durch kochen und trocknen weiterbehandelt. Natürlich ist der Verarbeitungsprozess eines der Geheimnisse der Vanille-Kooperative im Süden der Insel.
Begehrte Gewürze
Was hier am Fuße des Vulkanes Piton de la Furnaise wächst, zählt zu den begehrtesten Gewürzen in Küchen, wie auch Curcuma von der Insel La Reunion. Auch wenn die Vorhersagen in aller Regel rechtzeitig vor den Launen des Vulkans warnen, können sie natürlich nicht verhindern, dass der Piton de la Furnaise auch mal ausbricht.
Der höchste Berg der Insel ist allerdings der Piton des Neiges, den auf der Insel alle Einheimischen „Schneeberg“ nennen. Der Grund dafür ist, dass sich bereits einige Male Schnee auf der 3070 Meter hohen Spitze angesammelt hat. Das passiert bestenfalls in den Wintermonaten, die parallel zu den Sommermonaten in Europa wirken und die Temperaturen so gestalten, dass sie einem europäischen Sommer zur Ehre verhelfen würden. Selbst dann zeigt das Quecksilber selten weniger als 25 Grad Celsius an.
Picknicking
Vielleicht ist das auch der Grund für das ungewöhnliche Hobby aller Insulaner: das Picknicking. An den Feiertagen wiederholt sich in aller Regelmäßigkeit der Zug der Bevölkerung Richtung Strände wie der Zug der Lemminge. Mit mehr oder weniger grillbarem Gepäck bleiben die Kreolen dann ganztags unter den Pinien und Palmen sitzen, aalen sich zuweilen in der Sonne und trinken den Punsch, der sich bestens aus dem Rum aus eigenem Anbau herstellen lässt. Wer den nicht mag, nimmt sich ein Dodo von dienvielen Kiosken mit, die an den zahlreichen Stränden von La Reunion zu finden sind.
Dodo heißt das offensichtlich einzige Bier des Eilands und erinnert mit seinem Namen an den längst ausgestorbenen Laufvogel, der sein Dasein quittierte, als Hunde und Katzen mit nach La Reunion genommen wurden. Damit die Menschen nicht den gleichen Weg wie dieser ehemalige Inselbewohner gehen, bleiben sie zumeist in sicherer Entfernung vom Strand fort. Die Warnungen vor Haien werden hier so ernst genommen wie jede Bewegung des Vulkans – trotzdem schaffen die Lagunen optimale Bade- und auch Surfmöglichkeiten, die nicht von Haien erreicht werden können.
Den Meisterkoch kennen fast alle
An den Stränden ist auch Jackie zu finden. Er ist leicht zu finden, weil er den meisten Insulanern als Meisterkoch bekannt ist. Er spricht von acht Millionen Zuschauern, vor denen er seine Künste am Topf zelebriert. Ob es so viele sind, ist nicht sicher. Sicher ist, dass er von jedem zweiten Vorbeikommenden sofort erkannt wird. Er kocht in diesem Fall blauen Merlin und Chouchou sowie ortsübliches Carée für seine Gäste am Strand. Heerscharen von Standgästen helfen gern dabei, weil immer ein Stück Wissen für sie abfällt. Jackie ist hier eine Institution und fernab aller Starallüren – jeder der vorbeikommt, darf auch mit einer Kostprobe seines Könnens rechnen. Die Menschen teilen gern, Gastfreundschaft hat auf La Reunion einen festen Platz im Gefüge des miteinander Lebens.
La Reunion ist als Insel in aufregender Vielfalt der einzige Flecken europäischer Zuständigkeit, der durch sein subtropisches Klima Pflanzen wie Vanille, Jackfrucht, Zuckerrohr, Ananas, Muskatnuss und Chayote sprießen lässt. „Wir hatten den Euro bereits früher als ihr“, beteuert Nicolas, ebenfalls von Berufs wegen um das Wohl der Gäste besorgt. Recht hat er. In La Reunion schlägt es zwei Stunden früher Mitternacht als in Deutschland. So müssen sich die Besucher kaum zeitlich umstellen, auch wenn die Flüge über Paris stattliche elf Stunden dauern.
Infos: www.insel-la-reunion.com und in allen Reisebüros.