Das Gewitter bringt eiskalten Wind und heftigen Regen. Die Palmen sehen aus, als würden ihnen die Köpfe abgerissen. Der Himmel wird immer dunkler und schwarze Wolken türmen sich über dem Hügel von Rabat auf. Durch trockene Rinnsale und Bäche fließt erstes Wasser herab, noch braun und schmutzig. Die Menschen und Tiere suchen Schutz und Versteck vor dem lauten Donner, der plötzlich über sie hereinbricht – dabei war es gerade noch warm, mit Verwöhn-Wetter für Touristen in T-Shirt und mit Sonnenbrille.
Eine dramatische Szene für einen neuen Spielfilm über die Kreuzigung von Jesus, und der Wettergott ist das Sprachrohr für die Empörung von Gott über den Mord an seinem Sohn durch uns Menschen.
Die Botschaft der Liebe findet ihre Antwort in dem Hass auf den Menschen, der sagte: „Wenn du ohne Schuld bist, dann werfe den ersten Stein.“
Meterdicke Mauern schrumpfen auf Legoland-Größe
Tatsächlich wird in Rabat und auf ganz Malta am heiligen Freitag die Tat der Kreuzigung nachvollzogen, mit verdunkeltem Himmel dazu. Eine mittelalterliche Stadt liegt in ihren mächtigen Stadtmauern auf ihrem Hügel, mit einer aufragenden Kathedrale, die Häuser und das Umland klein erscheinen lässt – selbst die meterdicken Mauern schrumpfen auf Legoland-Größe.
Wie riesige Felsen, von Zyklopen geschleudert, liegen solche Kathedralen und Dome über die Insel verstreut, die sich die Füße in türkisblauem Wasser badet. Die Zeit der Kreuzritter und Johanniter grüßt durch die Jahrhunderte wie mit Leuchtfackeln – die Wahrheit braucht das mordende Schwert, obwohl es so einfach zu verstehen heißt: „Du sollst nicht töten!“ Wie oft ist Jesus seit seinem Tod noch getötet worden?
Jesus ruft seinen Vater mit dem Namen Allah
Mit Merhba werde ich willkommen geheißen, als ich die winzige Teestube betrete, arabische Laute drängen sich an mein Ohr, dunkelhäutige Gesichter und krauses Haar haben die meisten.
Der Tee schmeckt gut. Er wird auf arabisch-türkische Art aus einer kleinen Kanne mit Tee-Sud und einer großen mit kochendem Wasser zusammen geschüttet. Überrascht vor mir selber erinnere ich mich: Ich bin in der EU, dem kleinen Inselstaat Malta – und Jesus verlässt mit schwarzen Kraushaar und schwarzen Augen sein Gotteshaus und spricht Merhba zu den Gläubigen und ruft seinen Vater mit dem Namen Allah. Ein unerwartetes Bild.
Malti, die Sprache der Malteser, ist ein arabischer Dialekt. Trotz der Ängste und Befürchtungen vor dem Islam, heute wie damals, haben die Bewohner der Insel, ohne es offensichtlich vor sich selber zuzugeben, an ihrem maurischen Erbe festgehalten und die Sprache, den Baustil und große Teile der bodenständigen Kultur durch die Jahrhunderte verteidigt.
Selbst gegen die aggressiv und mit militärischer Gewalt auftretenden katholischen Ritterorden – auch Vater Gott ist Allah geblieben. Der Geist des Menschen ist unergründbar, das Gefühl spricht „Ja“ und der Verstand spricht „Nein“. Schon Goethes Faust stellte für uns Deutsche fest: „Es wohnen zwei Seelen in meiner Brust.“
Kleine Menschen, kleine Häuser
Erste langsame Paukenschläge von einem Trauermarsch kommen zur offenen Tür herein, Bewegung entsteht, die Einheimischen gehen, sich eifrig unterhaltend, nach draußen zu ihren Stühlchen und Bänkchen, die sie bereits vorbereitet haben.
Neugierig stelle ich mich dazu, sie machen mir lächelnd Platz – wieder fällt mir auf, wie klein viele von diesen Männern und Frauen sind – sie reichen mit gerade bis zur Brust. So erklären sich auch die traditionellen Häuser, klein und niedrig, wenn ich durch deren Türen gehen möchte, muss ich auf meinen Kopf sehr aufpassen.
Manche Gesichter sind nicht aus unserer Welt mit unseren Fotografie- und Fernsehgesichtern. Der Zug setzt sich für wenige Schritte in Bewegung, Adam erscheint, mit dem Apfel des Wissens in der Hand, das Wissen, das heute unseren Planeten an den Rand des Abgrunds treibt, barfuß, ein dünnes Fell bedeckt ihn. Gefühlte Null Grad und eisiger Wind dazu. Ein Martyrium auf den kalten Steinen. Bibelsprüche kündigen Eva an, sie frägt einen schwarzen Dreizack, um den sich zischelnd die Schlange windet. Sie ist von Scheitel bis Fuß mit einem dünnen schwarzen Schleier verdeckt, Assoziationen an eine islamische Burka werden wach: Ist Eva eine neuerstandene Prüfung für Adam, seinen katholischen Glauben gegen den Islam zu bewahren? Nun, die Menschen leben ihren arabischen Kultureinschlag, er bietet ihnen Sprache, Kontinuität und Identität. Daneben hat der katholische Glaube seine unzählbaren Baudenkmäler unübersehbar in den Himmel streben lassen, architektonische Zeichen und Bekenntnisse im Glaubenskampf. Auf Englisch frage ich vorsichtig die Frauen und Männer, die mich umstehen: „Wie lange waren eigentlich die Mauren auf Malta?“ Peinlichkeit und Sprachlosigkeit schlagen mir entgegen, da bin ich wohl in ein Fettnäpfchen getreten. „Das wissen wir nicht so genau, da gibt es keine Dokumente oder Baudenkmale!“
„Aber es war doch eine lange Zeit, das sieht man doch an eurer Sprache und euren Gewohnheiten, heißen eure Städte nicht Mdina und Rabat.“ „Da müssen Sie jemanden anderen fragen, der sich da auskennt.“
Wieder fällt mir Faust ein mit seinem inneren Widerstreit, der Konflikt der Religionen findet auch im Unterbewusstsein statt und Geschichtsschreibung ist wie immer von Macht- und Herrschaftsinteressen geprägt. Nathan der Weise könnte ganz aktuell auch in Mdinas festen Mauern spielen. Wie war das eigentlich mit unserer Wiedervereinigung oder in Chile oder in Spanien…Die Ideen der Aufklärung suchen, wie eh und je, ihre aktiven Anhänger.
Bankangestellte, Handwerker und Hausfrauen als biblische Gestalten
Wieder setzt sich die Prozession in Bewegung. Abraham, Moses und die israelischen Stämme ziehen vorbei, König David und die Römer, sorgfältig historisch gekleidet und starr vor Kälte, ausgerüstet für Palästina, das auch heute noch nach 2000 Jahren in blutigen Unruhen erstickt.
Die Gesichter und Menschen lassen den Zeitsprung auch äußerlich vergessen – wie wenig sich doch die menschliche Natur verändert hat. Die Kulisse einfach ändern und 2000 Jahre könnten fast vergessen sein. Blutig gezeichnet schleppt sich Barabas dahin, erschreckend mit seinen frischen Verletzungen. Bankangestellte, Handwerker, Geschäftsleute, Hausfrauen und Schulkinder repräsentieren die biblischen Gestalten, alle sind ernst und gefasst, sie wollen empfinden und für das Publikum ausstrahlen, was sie sind als die historischen Mit- und Nebenmenschen von Jesus.
Ich laure darauf, voller Anspannung, wer von ihnen Jesus verkörpern wird. Wer sich berechtigt fühlt, in seine Person zu schlüpfen. Kann es da noch jemanden geben, der Jesus verkörpern könnte – in unserer Konsumwelt, bei unserem extatischen Tanz um das wiederauferstandene goldene Kalb? Die Menschen von Malta haben eine Antwort für sich gefunden. Lebensgroße, naturgetreue Figuren-Ensembles, von lebendigen Bäumchen umgeben, stellen vier Leidensstationen von Jesus dar.
Sie werden von jeweils acht erwachsenen dickbäuchigen Männern mit enormen Kraftaufwand wenige Schritte vorwärts bewegt. Trotz der Kälte steht ihnen der Schweiß auf der Stirn. Schnell springen vier andere Männer hinzu, mit golden verzierten Stützstangen, bedrohlich gerät alles ins Schwanken, Besorgnis steht in den Gesichtern – nicht um sich selber, nein, um die Statue von Jesus, Jahrhunderte alt und von Generationen berührt und angebetet.
Die vereinte Kraft der Träger vollbringt für Jesus ein kleines neues Wunder, von Menschen vollbracht. Erleichterung steht in den Gesichtern der Zuschauer geschrieben, einige von ihnen wollten helfend dazu springen, die meisten jedoch waren auf dem Absprung.
Mit den Augen in die Seele der Menschen
Die zwei Gäste aus dem Cafe neben mir sind völlig unbeteiligt. Sie unterhalten sich über das Flüchtlingsproblem von Malta und der Flüchtlingswelle aus Afrika, wohl wegen einiger Afrikaner um uns herum. Etwas fällt mir auf, ohne dass ich es im ersten Moment benennen könnte.
Ich beobachte die beiden genauer. Ja, es stimmt, sie schauen sich nur für kurze Sekundenbruchteile in die Augen, sehen aneinander vorbei, sprechen wie zu einem imaginären Nebenmann. Aufmerksam geworden bemerke ich das gleiche bei den Familien mit Kindern, bei den Einheimischen um mich herum. Wie ich später erfahre, verbirgt sich dahinter die uralte Vorstellung des Orients von dem bösen Blick, die Überzeugung von der Kraft der Augen, in die Seele der Menschen vordringen, Fluch oder Segen bewirken zu können. So bietet man die eigenen Augen nicht ungeschützt anderen Menschen dar.
Auch ich werde beobachtet und eine Frau mit kleinem Kind im Arm erkundigt sich bei mir über meine Eindrücke von der Prozession. Sie bemerkt meine Gedanken und Irritationen und erklärt mir, dass ich die Prozession nur richtig nachvollziehen kann, wenn ich auch den Vorlauf und die Vorbereitungen kenne.
Viele der Bewohner von Rabat haben Stunden zuvor in schwarz abgehangenen Kirchen und Kathedralen an den grausamen Tod und das Schicksal von Jesus gedacht. In stiller Meditation haben sie versucht, dem Opfer von Jesus näher zu kommen.
Jetzt zieht die Prozession wieder einige Schritte weiter. Niemand klatscht, niemand ruft Kommentare, mit großem Staunen schauen die Kinder von den Schultern und Armen und Stühlen ihrer Eltern.
Welcher doppelte Schrecken zieht da an ihnen vorüber – das eigene Leid der Darsteller und das dargestellte Leid. Die Geschichte schickt ihre Botschaft erneut in die Welt.
Rasseln und Schleifen
Ein Rasseln und Schleifen schleicht zum Schluss die Straße entlang. Ich erkenne tiefgebückte Gestalten, massive hölzerne Kreuze lasten auf ihren Schultern. Es sind die Büßer, die durch eigene aktive Tat die Schuld der Menschen an Jesus ein wenig abtragen wollen.
Sie sind kaum bekleidet von ihren braunen Büßergewändern und schwere Eisenketten sind um die Füße gewunden und schleifen klirrend hinterher. Ihre Köpfe sind mit Schlitzhauben verdeckt. Es ist makaber, aber ich muss an den Ku-Klux-Klan denken, wie sie Farbige jagen und verbrennen – und jetzt und hier für ihre Taten Buße tun.
Ihr Einsatz und ihre Anstrengung jedoch sind entgegen meiner Fantasie offensichtlich und authentisch. Ich kann sie verstehen und ich kann mich in sie hinein versetzen, so wie sie versuchen sich in das Leid von Jesus hinein zu versetzen.
Aber es bleibt mir fremd, ungewohnt und ist außerhalb meiner Lebensfantasie. Ich wünsche mir, dass diese Leidenschaft im Leiden nicht umschlägt in Intoleranz und Hass und Krieg gegen Andersdenkende. Dieselbe Leidenschaft im Dienst von Frieden, Gerechtigkeit und Respekt gegenüber Natur und Mensch ist aber bestimmt auch im Sinne von Jesus.
„Hier ist meine Heimat“
Ich schrecke aus meinen Gedanken, mein kraushaariger Nebenmann spricht mich an und schaut mir dabei nur einen Sekundenbruchteil in die Augen. „Ich heiße Joseph, ich kenne sie doch, können sie mir weiterhelfen, wo wir uns begegnet sind?“
Ich muss nicht lange überlegen: „Nein, ich bin mir sicher, wir kennen uns nicht.“ Er lacht herzlich und klopft mir auf die Schulter. Ja, so fremd bin ich also doch nicht auf dieser fernen europäischen Insel. Gerne führe ich das Gespräch weiter, das schnell vertraulich und offen wird.
„Wissen sie, dass wir Menschen auf Malta viel Hunger leiden mussten, vor allem die Kinder. Ich selber auch in meiner Jugend. Wir hatten einen schönen Aprikosenbaum in unserem Garten, aber unser Vater hat uns strengstens verboten, davon die Früchte zu essen.
Ich habe mich dann heimlich jeden Tag und auch nachts auf die Lauer gelegt und den Baum bewacht, denn unser Hunger war sehr groß. Da musste es doch einen wirklich wichtigen Grund geben. In einer Nacht kam mein Vater mit einem großen Sack zum Baum und pflückte achtsam die Früchte. Dann ging er in unser Dorf zur Kirche und überreichte den Sack ehrerbietig dem Priester. In der darauf folgenden Nacht habe ich mit meinen eigenen Händen den Baum umgehackt und Jahre später bin ich als Arbeiter nach New York gegangen, um meiner Familie Unterstützung geben zu können. Und jetzt bin ich wieder hier, denn hier ist meine Heimat.“
Fotos: Bernd George