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El Hierro: Die Selbstversorger

Von der Antike bis 1884 war El Hierro die Isla del Meridiano Cero, ehe der Nullmeridian von Greenwich international festgelegt wurde und damit die Bedeutung der Insel verloren ging. Die Menschen sind einfach und ursprünglich, aber dennoch sehr zukunftsweisend. Nicht nur weil die ganze Insel im Jahr 2000 von der Unesco zum Biosphärenreservat erklärt wurde.

Bizarre Felsformation mit Western-Namen: Bonanza.

Bizarre Felsformation mit Western-Namen: Bonanza.

„Binter“-Flug NT 673 von Tenerife-Norte nach El Hierro: Die Schokoriegel sind ausgeteilt und ich frage meine Sitznachbarin, eine Frau mittleren Alters mit pechschwarzen Haaren auf Sitz 10 A, ob sie aus El Hierro sei. Journalisten sind ja immer etwas neugierig. Sie schaut mich an und antwortet: „Ja, ich bin dort geboren, muss aber auf Teneriffa arbeiten. Wir haben ja nichts auf El Hierro …“ Pause. „Und warum fliegen Sie nach El Hierro?“, kontert sie. Was antwortet man nun darauf? Längere Pause und dann fast philosophisch: „Es ist das Nichts, das für Stadtmenschen so faszinierend ist. Ich will gerne Ihr El-Hierro-Nichts erkunden!“ Sie lacht und denkt sich wahrscheinlich: „So was kann ja wohl auch nur ein Tourist sagen …“

Das (vielleicht) kleinste Hotel der Welt: Punta Grande.

Das (vielleicht) kleinste Hotel der Welt: Punta Grande.

Am Mietwagenschalter am Flugplatz: Auf dem Übergabeprotokoll sind keine Schäden eingezeichnet, tatsächlich finden sich aber drei deutlich sichtbare Kratzer und eine Delle am Auto. Also zurück zum Schalter. Doch die Dame will die gerade gemachten Handy-Fotos von den Schäden gar nicht sehen, sondern kreuzt einfach drei Kratzer und eine Delle ins Übergabeprotokoll – und macht sogar noch an der Frontpartie ein Kreuz für einen Schaden, der gar nicht existiert. „Ok jetzt?“, fragt sie. „Mach‘ Dir keine Sorgen. Wir sind hier auf El Hierro!“

Außenposten Europas

Als wäre es gemalt: Blick auf die Bonanza-Bucht.

Als wäre es gemalt: Blick auf die Bonanza-Bucht.

El Hierro, mit rund 270 Quadratkilometer Fläche deutlich kleiner als mein München (310 Quadratkilometer) und mit gut 10 000 Einwohnern etwa so übersichtlich wie Münchens kleinstes Viertel, das Lehel. Wohin man auch fährt: Nach ein paar Kilometern kommt das Meer. Den alten Männern sprießen die Haare aus den Ohren und die Bärte wachsen, wie sie halt wachsen. Die Frauen zeigen sich vorwiegend in bäuerlicher Schürze, auch wenn sich ein paar Junge die Haare pink haben färben lassen. Kaum jemand spricht englisch und das Spanische ist schwer verständlich. El Hierro ist der Außenposten der Kanarischen Inseln, von Spanien und vom Gefühl her auch von Europa, selbst wenn die Azoren noch viel weiter westlich liegen.

Den Städter fasziniert das Nichts, das natürlich viel mehr als nur nichts ist: Es ist die schnöde Einsamkeit und die einfache, fast fade Schönheit. El Hierro gibt sich schroff: Bizarr geformte Felsen stellen sich dem Meer entgegen wie eine uneinnehmbare Festung. Doch man hat den Eindruck, das Meer will die Insel trotzdem kapern, wie einst die Piraten. Es donnert unermüdlich an. Die Gischt spritzt meterhoch. Und das Meer gibt einfach keine Ruhe – nicht am Tag, nicht in der Nacht. An diesem Außenposten verhängen sich die Wolken an den 500 bis 1500 Meter hohen Bergen, die je nach Sonneneinstrahlung olivgrün schimmern oder schlicht matt und schwarz sind, wenn der Himmel ganz bedeckt ist. Wolkenschwaden ziehen ständig über die Insel, als sei man im schottischen Hochland. Jährlich weht der Passatwind 3500 Stunden über El Hierro (bei 8760 möglichen Stunden) – und bringt Wolken, aber auch Energie. Dazu später mehr.

Schroff und steil ins Meer hinab: an der Nordküste El Hierros.

Schroff und steil ins Meer hinab: an der Nordküste El Hierros.

Manchmal ist die Fahrt in den wolkenverhangenen Bergen wie verwunschen: Die Sicht liegt dann bei gerade mal 50 Metern. Unvermittelt tauchen wunderschöne Natursteinhäuser auf, dichte Wälder, für ein paar Minuten blinzelt die Sonne durch, färbt die Natur in sattes Grün und man denkt: Wann war man das letzte Mal in solch einer Einsamkeit auf solch leeren Straßen? Dazu muss man wissen: Die 10 000 Einwohner verfügen immerhin über 6000 Autos! Guaguas inklusive; so werden die wenige öffentlichen Busse der Insel genannt. Man kommt mit ihnen voran, wenn man wegen der eigenen Ökobilanz schon mit der Fähre angereist ist und auf den Mietwagen verzichtet hat. Aber man braucht Zeit. Sogar sehr viel Zeit.

Traumlage! Aber kaum zu finden …

Eine Kirche wie ein Ausrufezeichen: La Candeleria auf dem Monte Roja.

Eine Kirche wie ein Ausrufezeichen: La Candeleria auf dem Monte Roja.

351 Stufen sind es bis zur Unterkunft: eine Höhlenwohnung, keine Straße, keine Nummer, nur ein schmaler, unwegsamer Pfad vom Plateau bis fast hinunter ans Meer. Die Vermieterin hat ihren Sohn mitgeschickt, sonst wäre das Domizil nicht zu finden gewesen: Traumlage! Unten peitscht das Meer die Wellen in die Bucht. Oben, auf der Terrasse, werden der mitgebrachte Käse, die Paprikawurst, die Oliven, das Brot und der Viña Frontera Blanco, angebaut auf der Insel, dem südlichsten Weinanbaugebiet Europas, zum Festmahl: gefühlt sogar besser als in jedem Drei-Sterne-Geschwurbel-Restaurant. Aber auch wer es komfortabler wünscht, wird auf El Hierro nicht enttäuscht: Das dortige Parador liegt am Ende einer langen Stichstraße direkt am Atlantik und wird eingerahmt, aber auch geschützt von mächtigen Felswänden. Auch dort ist – trotz gehobenem Hotelkomfort – das gesuchte Nichts ganz leicht zu finden …

Die Zukunft: Wind und Wasser

Es gab mehrere Auswanderungswellen und auch im 21. Jahrhundert ziehen noch viele weg: auf eine der großen Kanarischen Inseln, aufs spanische Festland oder vereinzelt nach Mittel- und Südamerika. Auch die Dame von Sitz 10 A würde gerne nach Teneriffa ziehen. Es geht aber nicht. Ihre Mutter braucht Pflege und la Madre will nicht weg von der Insel. Die Tochter findet dort aber keine Arbeit. An der Zukunft wird freilich gebastelt auf El Hierro. Und wie!

La Candeleria auf dem Monte Roja.

La Candeleria auf dem Monte Roja.

Das letzte Ende der Kanaren will sich nämlich selbst versorgen: El Hierro plant zur einzigen Insel der Welt zu werden, die sich vollständig mit erneuerbaren Energien versorgen kann. Ein Wind-Wasser-Kraftwerk soll die 10 000 Bewohner versorgen. Es wird das bisherige Dieselkraftwerk ersetzen, obgleich dieses für Notfälle betriebsbereit bleiben wird. Die Diesel-Variante kostete den Inselgemeinden jährlich rund 1,8 Millionen Euro und 6000 Tonnen Treibstoff, wobei jeder einzelne Liter per Schiff herangebracht werden musste. Die Wind-und-Wasser-Energie wird nicht nur gut für die Umwelt sein, sondern auch für den Geldbeutel aller Insulaner: Man rechnet mit etwa 25 Prozent weniger Energiekosten. Angepeilt war die Selbstversorgung für 2020. Das war allerdings vor 35 Jahren, als die ersten Planungen begannen. 2020 ist nicht zu halten, ein neuer Zeitpunkt steht aber auch noch nicht fest. Doch manchmal zählen ja auch ein bisschen Wunsch und Wille.

Plastik und Ökobilanz

Abgelegen am schwarzen Lavastrand: das schöne Parador von El Hierro.

Abgelegen am schwarzen Lavastrand: das schöne Parador von El Hierro.

Aber selbst wenn es mit der Energie-Selbstversorgung hoffentlich bald funktionieren wird, hört die Ökobilanz ja nicht bei der Stromversorgung auf. In den kleinen Lebensmittelgeschäften – einen großen Supermarkt gibt es nicht auf der Insel – nimmt man weiterhin selbstverständlich Plastiktüten, noch dazu kostenfrei, auch das Wasser ist in Plastikflaschen abgefüllt, wie überall im Süden üblich. Und nicht nur die Frau von Sitz 10 A wird mit ihren Pendlerflügen am Ende des Jahres eine geradezu erschreckende CO2-Bilanz aufweisen. Die interinsularen Flüge werden schließlich subventioniert: Für den 40 Minuten langen „Binter“-Flug NT 673 von Teneriffa bezahlten Touristen 90 Euro hin und zurück, die Frau von 10 A und alle anderen Insulaner bringen selbst nur ein Drittel davon auf, nämlich 30 Euro.

Auf dem Rückflug sitzt niemand auf 10 A und auch die Frau vom Hinflug ist nicht an Bord. Aber man kann nun die Antwort auf die auf dem Hinflug gestellte Frage bestätigen: Die gegebene Antwort, das von ihr ins Spiel gebrachte Nichts auf El Hierro zu suchen, war ja nichts anderes als das Verdichten von Natürlichkeit und Ursprünglichkeit in einem Wort. Für die El Hierros die normalste Sache der Welt. Für einen Stadtmenschen aber etwas selten Gewordenes und schlicht Faszinierendes. Und jeder kann es auf diesem unscheinbar-schönen Inselchen El Hierro auch leicht finden. Jochen Müssig

Info

Abgeschieden und wildromantisch: Casa Cueva in Pozo de las Calcosas.

Abgeschieden und wildromantisch: Casa Cueva in Pozo de las Calcosas.

Valverde, Inselhauptstadt mit weniger als 2000 Ew., rund 650 m hoch gelegen, häufig wolkenverhangen: Das Centro Etnográfico Casa de las Quinteras, das ethnografische Zentrum, befindet sich in einem alten Haus aus Vulkangestein. Alles dreht sich um die Themen Holz-, Ton- und Textilhandwerk, Schmiede sowie Weberei (Calle Armas Martell).

E-Bike-Touren quer durch die Insel bietet Velo Hierro ab 38 € (5 Std., www.velohierro.com). Sa. ist am Hospital Nuestra Señora de Los Reyes von 8.00-13.00 Uhr Markt.

Manche sagen La Mirada Profunda sei das beste Restaurant der Insel. Sicher ist: Fisch und Fleisch kommen bestens auf den Tisch (Tel. 922/55 17 87).

Frontera, mit 1300 Ew. zweitgrößter Ort der Insel in sehr schöner Lage auf 350 m Höhe: Die Kirche La Candeleria steht wie ein Ausrufezeichen auf dem rötlich schimmernden Vulkankegel Monte Roja. Das wahrscheinlich schönste Fotomotiv auf der Insel!

Fly El Hierro bieten Tandem-Gleitschirmflüge (ab 80 €, www.flyelhierro.com).

Vulkanhöhlentour, 45 € p. P. oder max. 120 € pro Familie (5 Std., www.hoehlenelhierro.de).

Auf dem Markt auf der Plaza Benito Padrón gibt es lokales Kunsthandwerk, Produkte der Bauern der Umgebung und sogar deutsche Brezen …

Für gute kanarische Küche ist das Casa Pucho Don Din bekannt (Tel. 922/55 53 27).

Las Puntas, 250-Ew.-Dorf, liegt zwischen Meer und Bergen: Das als kleinstes Hotel der Welt geführte Punta Grande bietet schöne Ausblicke auf die Atlantikküste und die Roques de Salmor (https://hotelpuntagrande.com).

Pozo de las Calcosas mit einer Höhlenwohnung ohne Straße und Hausnummer, aber in Traumlage über einer rauen Bucht: Die Casa Cueva hat 4 Eingänge: für die beiden Schlafzimmer, für die Küche mit großem Kühlschrank und für Dusche und Toilette. Alles sehr einfach, aber praktisch und sauber sowie vor allem wildromantisch. Ab 60 € pro Nacht, buchbar ausschließlich unter Tel. 0034/922/55 10 44.

Punta de Orchilla: Das westl. Ende der Kanaren wurde von Ptolemäus als Nullmeridian verortet. Noch stets im Glauben, die Welt sei eine Scheibe, war man sich sicher, dass dort das Ende der Welt sei. Ab 1884 wurde der Punkt durch Greenwich in England abgelöst.

La Restinga, 600 Ew., südlichster Punkt Spaniens, Zentrum des Tauchsports auf der Insel: Es werden auch Boots- und Schnorcheltouren angeboten (www.extradivers-elhierro.com).

Im Mar de las Calmas am Hafen gibt es leckere Gambas, frischen Fisch und ein Glas Weißwein kostet 1,50 €. Man sitzt im Freien an der Hafenmole (Tel. 922/55 71 83).

Weitere Infos: elhierro.travel

Fotos: Jochen Müssig

Raushier-Reisemagazin

Ein Gedanke zu „El Hierro: Die Selbstversorger

  1. Millionengrab El Hierro
    Probleme: Zuwenig Speicher…
    Probleme mit der Netzstabilität…
    und horrende Strompreise
    Die Zeche für El Hierro zahlt die Allgemeinheit
    Im Moment bezieht El Hierro seine Energie aus 100 % DIESEL“.

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