Was für ein Moment: Ich stehe ganz alleine auf dem knapp 3.000 Meter hohen Rettenbachjoch und habe damit meinen höchsten Punkt auf dem Fernwanderweg E5 erreicht. 400 Höhenmeter unter mir liegt das Weltcup-Skigebiet von Sölden mit seinem großen Parkplatz, den Liftanlagen und der Besuchertribüne. Um mich herum eine Welt aus Schnee und Eis. In den vergangenen Tagen hat ein Tiefdruckgebiet mitten im Juli für Schneefall unter 1.500 Metern gesorgt und mir damit ziemlich kniffelige Verhältnisse beim heutigen Aufstieg beschert. Doch nun habe es tatsächlich geschafft! Ein riesiges Glücksgefühl durchströmt mich, ich könnte jubeln und tanzen vor Freude. Ich schließe die Augen, hole tief Luft und fühle ganz intensiv diesen besonderen Moment.
Als Frau alleine über die Alpen? Nicht jeder hatte im Vorwege dafür Verständnis: „Warum schließt du dich nicht einer Gruppe an?“ „Hast Du gar keine Angst, so alleine?“ „Was machst du, wenn dir etwas passiert?“ Selbst meinem Mann, der mich gut genug kennt, war es manches Mal ein wenig mulmig, mich alleine losziehen zu lassen. Doch mir war es wichtig, einmal zu schauen, wie ich auf mich alleine gestellt zurecht komme: Mit den Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, Entscheidungen, die zu treffen und Schwierigkeiten, die zu meistern sind. Es wurde ein großartiges Erlebnis, das ich nicht missen möchte!
Ungünstige Omega-Strömung
Der erste Abschnitt des E5 von Konstanz am Bodensee bis nach Oberstdorf im Allgäu eignet sich perfekt für den sanften Einstieg in den Fernwanderweg. Konditionell sind einige dieser ersten Etappen aufgrund ihrer Länge aber durchaus fordernd. Zudem macht mir das Wetter einen ziemlichen Strich durch die Rechnung: An meinem dritten Wandertag deutet der Fernsehmoderator auf eine Wetterkarte mit vielen „Ts“ und erzählt etwas von einer „ungünstigen Omega-Strömung“.
Was das ist, soll ich bald erleben. Unwetterartiger Starkregen zwingt mich zum kurzfristigen Umdisponieren, die Nagelfluhkette mit dem gemütlichen „Staufner Haus“ muss ich umgehen. Normalerweise lasse ich mich von ein wenig Regen nicht entmutigen, doch das ewige „Hatschen“ durch Regen und Nebel kann auch ich mir irgendwann nicht mehr schön reden.
Umso angenehmer ist nach diesen Tagen die Ankunft in einem gemütlichen Gasthof, wo die Kleidung trocknen und die Seele sich bei einem Aperol Spritz erholen kann. Und: Ich merke schnell, dass mir das Alleinsein keinerlei Probleme bereitet. Außerdem gefällt mir die Region. Den Kontrast zwischen dem maritimen, fast schon südländisch anmutenden Flair am Bodensee und der alpenländischen Gemütlichkeit im Bregenzer Wald finde ich sehr reizvoll. Schade, dass so viele E5-Wanderer erst in Oberstdorf starten. Sie verpassen etwas.
Hinter Oberstdorf befinde ich mich auf dem wohl bekanntesten Abschnitt des Fernwanderweges. Jede Woche starten von hier aus zahlreiche Bergschulen mit ihren Gruppen, um nach Meran zu wandern. Um diesem Rummel aus dem Weg zu gehen und Übernachtungen im Massenlager zu vermeiden, habe ich mich für eine andere Etappeneinteilung entschieden, als sie üblicherweise in den Büchern vorgeschlagen wird.
Meine Planung ist dabei zugegebenermaßen ziemlich sportlich geraten, doch ich glaube, mich konditionell inzwischen ganz gut einschätzen und die Distanzen bewältigen zu können.
Spektakuläre Hängebrücke
Über das Mädelejoch gelange ich hinüber ins Lechtal. Hier kreuzt der relativ neu angelegte „Lechwanderweg“ den E5 und überquert auf einer spektakulären Hängebrücke die Höhenbachtalschlucht. Die Hängebrücke gilt mit 200 Metern Länge und 105 Metern Höhe als eine der höchsten und längsten Fußgängerbrücken Österreichs. Das sind schon gewaltige Ausmaße, vor allem, wenn man leibhaftig davor steht bzw. darüber geht. Ich hab normalerweise keine Höhenangst, doch selbst ich habe leicht wackelige Knie, als ich durch den Gitterboden in die Tiefe schaue.
Am nächsten Tag steige ich aus dem Tal an der Memminger Hütte vorbei hinauf zur Seescharte. Vor der wird in Büchern und Berichten oftmals gewarnt. Die Scharte wird als felsig und anspruchsvoll mit einigen Kletterstellen und Seilen beschrieben. Ich bin daher innerlich auf das Schlimmste eingestellt und konzentriert unterwegs, vielleicht ist das der Grund, warum sie mir gar nicht so schwierig vorkommt. Der Übergang ist ein nur mannbreiter Einschnitt zwischen den Felsen, bevor es auf der anderen Seite wieder steil hinuntergeht. Der anschließende Weg ins Tal ist sehr lang und zieht sich enorm. Die Füße glühen in den Wanderstiefeln. Kein Wunder, dass bei diesem Abstieg so manches Knie protestiert und seinem Besitzer die rote Karte zeigt. Zum Glück habe ich diese Probleme nicht. Brav laufen meine Beine und Füße mit mir ins Tal.
Heidenrespekt
Und ein paar Tage später nun also das Rettenbachjoch! Von der Braunschweiger Hütte aus blicke ich zweifelnd auf die dichte Schneedecke, die alles bedeckt. Ob ich wohl weiter gehen kann und heute über das Joch komme? Ich habe zugegebenermaßen einen Heidenrespekt davor. Allerdings ist der Weg eigentlich ganz gut zu erkennen, eine Spur ist in den Schnee getreten und die Wirtin der Braunschweiger Hütte gibt mir ebenfalls „grünes Licht“. Dann los! Ich komme zügig voran und bald schon liegt die Hütte ganz klein hinter mir. Ich fange an, diese Schneewanderung mitten im Juli zu genießen und bin euphorisch, weil bislang alles so gut klappt. Doch dann zieht wieder eine gemeine Nebelwolke über mich hinweg, in Nullkommanix ist die Sicht weg. Jetzt bloß die Schneespur nicht verlieren! Ein Schneeschauer mit Graupel geht auf mich nieder. Rundherum ist alles weiß, diffus und eisig. Während ich durch den Schnee im Fels langsam weiter aufwärts steige, ist es mir ziemlich mulmig.
Doch dann bin ich oben angekommen, und als wenn damit der Bann gebrochen wäre, wird es gerade etwas heller, Nebel und Schnee verziehen sich und ich habe wieder etwas Sicht auf meine Umgebung. Dass ich diese Schlüsselstelle nun gut bewältigt habe und gesund auf der anderen Seite angekommen bin, macht mich glücklich und dankbar, und ich bin stolz auf mich.
Später am Abend glühe ich allerdings so rot wie eine Leuchtboje – das liegt nicht an dem guten Rotwein, sondern daran, dass ich mich bei der heutigen Schnee- und Gletscherwanderung kein bisschen mit Sonnencreme eingerieben habe, es war ja schließlich bewölkt…Huch! Ganz schön leichtsinnig. Das wird ein „heißer“ Abend!
Begleitfahrzeug
Über das Timmelsjoch führt mich mein Weiterweg hinein nach Südtirol. Ab hier begleitet mich mein Mann Andy eine Woche lang mit dem Auto. Ich freue mich natürlich darüber und komme dadurch mal abgesehen von seiner Gesellschaft in den Genuss eines eigenen „Begleitfahrzeuges“, was natürlich praktisch ist. Dennoch ist es ein komisches Gefühl, nur mit einem kleinen Tagesrucksack unterwegs zu sein und sich gepäckmäßig nicht einschränken zu müssen. Es fühlt sich gar nicht nach „richtigem“ Fernwandern an und ich habe die Befürchtung, dass mich eventuelle Mitwanderer nur als normale Touristin wahrnehmen könnten, das ginge ja gar nicht!
Hinter Bozen beginnt der eher unbekanntere südliche Teil des E5. Ich bin nun wieder alleine unterwegs und werde einige Tage lang von Gewittern gejagt. Die ersten Etappen verlaufen oftmals durch Wald, was bei dem warmen Wetter zugegebenermaßen ganz angenehm ist, doch es fehlt mir das typische „Berg-Feeling“. An einigen schönen Aussichtpunkten kann ich das gesamte Etschtal entlang schauen und bin immer wieder fasziniert, welche Strecken man doch zu Fuß zurücklegen kann. Vier Tagesetappen hinter Bozen erreiche ich mit dem Cembra-Tal das „richtige“ Italien mit verwinkelten Gassen, kleinen Geschäften, quer gespannten Wäscheleinen, schmiedeeisernen Balkonen und etwas schmuddeligen Fassaden. Die von mir etwas verschmähten Waldetappen liegen hinter mir und es geht nun wieder richtig hinauf in die Berge.
Alle die denken, der E5 besteht nur aus dem bekannten Abschnitt Oberstdorf-Meran und die übrigen Etappen lohnen sich nicht besonders, irren sich gewaltig. Der häufig begangene mittlere Teil führt sicherlich durch und über sehr schöne Berge, doch die Berge im Süden stehen dem in keiner Weise nach und haben innerhalb der „Gesamtkomposition E5“ ihren berechtigten Platz. Vor allem konditionell fordert mich der südliche Abschnitt, damit hatte ich im Vorwege nicht gerechnet. Selbst an den letzten beiden Tagen vor Verona sind es nochmals über 1.000 Höhenmeter im Auf- und Abstieg – absolut kein „Selbstgänger“!
600 Kilometer und 22.000 Höhenmeter
An meinem letzten Wandertag wache ich mit gemischten Gefühlen auf. Unglaublich, dass meine Reise heute zu Ende geht. Mit dem heutigen Tag werde ich den kompletten E5 vom Bodensee nach Verona beendet haben. Rund 600 Kilometer und 22.000 Höhenmeter liegen dann hinter mir und ich hab die Alpen von Nord nach Süd durchquert. Das ist schon ein tolles Gefühl.
Die Ankunft an der Arena ist für mich dann ein bewegender Moment. Hier zu stehen und zu wissen: Ich bin ZU FUSS hierher gekommen! Beim Start am Bodensee klang „Verona“ so aberwitzig weit entfernt, und nun bin ich tatsächlich da. Mit Rucksack und in Wanderstiefeln stehe ich mitten unter den Touristen aus aller Welt auf dem großen Platz. Bei aller Freude über das Erreichen des großen Zieles schleicht sich auch eine leichte Wehmut ein. Es werden andere Wanderungen folgen, sicher auch andere Fernwanderwege, doch die Tour auf dem E5 geht mit dem heutigen Tag endgültig zu Ende
Und wie war es jetzt für mich, alleine unterwegs gewesen zu sein? Würde ich es wieder machen? Ganz klar: Ja, und ich kann es auch jedem empfehlen, es selbst einmal auszuprobieren. Ich hatte während meiner Solo-Wanderung eine Menge Zeit, über Dinge nachzudenken und habe viel über mich gelernt, auch wenn diese besondere Alpenüberquerung nicht als Selbstfindungstrip oder so geplant war. Die langen Phasen des „mit-mir-alleine-seins“ während des Tages habe ich nie als belastend empfunden, nie hat mich das Schweigen gestört. Die Anstrengung gehörte dazu und sorgte dafür, dass ich mich wirklich jedes Mal am Abend auf so einfache Dinge wie eine Dusche, ein leckeres Essen, einen Vino Rosso und ein Bett gefreut habe. Dieses Glücksgefühl beim Ankommen am Etappenort hat nie nachgelassen und war am letzten Abend noch genauso stark wie am Beginn der Wanderung.
Eine Wanderung, die verändert
Sicher gab es mal den einen oder anderen unbehaglichen Moment, sei es aufgrund des Wetters oder aufgrund kurioser Unterkünfte, doch richtige Angst kam nie auf.
Alleine unterwegs zu sein, sich auf sich selbst zu verlassen, das erfordert gar nicht soviel Mut, nur eine gehörige Portion Neugier auf das Leben und die Menschen, und eine gewisse Offenheit für neue Situationen. Mich jedenfalls hat die Wanderung verändert.
Fotos: Meike Moshammer
Während der Etappen auf „ihrem“ E5 hat die Autorin Tagebuch geführt – und lässt nun mit diesem Buch alle Wanderbegeisterten an ihren Eindrücken teilhaben. Lesenswert!
Als Frau alleine über die Alpen: Auf dem E5 von Konstanz über Bozen nach Verona
€ 19,80. ISBN 978-3-89846-790-2.