Hals- und Beinbruch denen, die die Abhänge von Nicaraguas „Schwarzem Berg“ hinabrauschen: auf einem Board, das eher einem Stück Sperrmüll gleicht. Plötzlich ist er da, der Abgrund, die westliche Flanke von Nicaraguas „Schwarzem Berg“, dem Cerro Negro. Hier soll’s gleich in Schussfahrt über Vulkanasche runtergehen? „Wartet auf meine letzten Instruktionen“, sagt Tourbegleiterin Marjiory, die mit ihrer Prognose Recht behalten hatte: „Wenn ihr nach unserem Aufstieg oben steht, wird es euch steil vorkommen, extrem steil. Zu Beginn sind’s 40, später 45 Grad.“
Angesichts der Neigungswinkel, die einer stattlichen Dachschräge zur Ehre gereichen, hatte Marjiory allerdings beschwichtigt: „Ihr werdet euch dran gewöhnen. So schlimm ist es im Grunde gar nicht.“ Na, ja, schlimm ist relativ und wird von jedem anders empfunden, aber Kneifen kommt nicht in Frage. Es ist ohnehin zu spät, im Abendlicht auf selber Strecke zu Fuß umzukehren. Zu spät auch, einen Angstschwall abzudrücken. Denn jeder der Gruppe steckt bereits in einem Schutzanzug aus dickem Jeansstoff. Der letzte Toilettengang ist eineinhalb Stunden her: an der Rangerstation des Cerro Negro, wo die Sandboarding-Expeditionen ihren Anfang nehmen.
Mit der Schranktür hinauf
Sherpas gibt es am Cerro Negro nicht. Wer sich mit dem Board in den Adrenalinrausch stürzt, muss es ab der Rangerstation selber hochtragen. Das Brett dürfte sieben, acht Kilo wiegen. Es ist schmal, etwa einen Meter lang. Und gleicht einer ausrangierten Schranktür, die auf die Sperrmüllabfuhr wartet. Das Gegenteil von Designerware. Die Unterschiede zu einer handelsüblichen Tür liegen darin, dass das Brett an der Unterseite teils einen Metallbeschlag trägt und obendrauf eine Kordel mit Handgriff befestigt ist. Co-Begleiter Henry hilft mit, die Boards zwischen Rücken und Tourrucksäcken seiner Schutzbefohlenen quer einzuklemmen. Dabei kann er sich den Kommentar nicht verkneifen, dass es beim Sandboarding noch keine Todesfälle, aber schon Knochenbrüche gegeben hat. „Zuletzt war da einer, der …“, setzt Henry an, doch die Teilnehmer winken ab und wollen’s nicht wissen. Die Konzentration gilt nun dem Transport. Es ist kein Leichtes, mit einem Brett in Querformat auf dem Rücken umherwandern. Erste Kollisionen untereinander machen klar: Das geht nur mit Abstand. Brav hintereinander.
Der „Schwarze Berg“ buckelt sich in konischer Musterform auf. Er macht seinem Namen alle Ehre und ist wirklich pechschwarz. Der Vulkan ist jung. 1850 brachten ihn die Urgewalten der Natur im Westen Nicaraguas hervor. Seither hat er über 20 Eruptionen erlebt. Derzeit herrscht Ruhe. Ob dem Frieden in Zukunft zu trauen ist, weiß niemand. Die Erde oben über dem Hauptkrater ist warm. „Steckt mal die Hand hinein“, wird Marjiory später animieren, „aber nicht zu tief. Ich habe nämlich hier schon Eier gekocht.“
Es riecht nach Schwefel
Der Trail auf den 730-Meter-Gipfel hat seine Tücken. Loses Lavageröll. Dazu schluckt man den Staub der Vor-Gänger. Die Sonne knallt. Und das Board ist eine ungewohnte Last, an der der Wind zurrt und aus dem Tritt bringt. Auf halber Strecke weist Marjiory an: „Nehmt das Brett jetzt vom Rücken und tragt es in der Hand. Das ist sicherer.“ Mit der Höhe steigern sich die Ausblicke: über einen weiten Nebenkrater des Cerro Negro, das von gelben Sardinillo-Bäumen bepunktete Grün und größere Riesen der Vulkanwelt, darunter der San Cristóbal. Es riecht nach Schwefel. In der Ferne glitzert der Pazifik.
Bankräuberclique auf Expedition
Kurz vor dem Abgrund macht Marjiory Halt. Dort, wo noch niemand in die Tiefe sieht. Das scheint sie sich als finalen Überraschungseffekt aufzusparen. Jeder leert seinen Tourrucksack: Overall, Schutzbrille, Handschuhe. „Legt alles an, dann bindet ihr ein Tuch vor den Mund“, weist Marjiory an. Was aussieht, als wäre eine Bankräuberclique auf Expedition. In diesem Aufzug beginnt die Trockenübung mit den Boards. „Immer nur sitzen, nie stehen, und zwar hinten“, mahnt Marjiory und trichtert den bevorstehenden Ablauf ein: „Wenn ihr euch nach hinten lehnt und die Kordel mit dem Handgriff anzieht, werdet ihr schneller. Wenn ihr euch aufrecht hinsetzt und die Kordel durchhängen lässt, könnt ihr das Tempo besser kontrollieren. Bremst nie mit den Händen, nur mit den Füßen. Ihr müsst immer mit beiden Füßen gleichzeitig bremsen, sonst kippt ihr um.“ Und das kann in der Vulkanasche fiese Schürfwunden geben.
Schöne Aussichten. Jeder ist gerüstet. „Es sind 400 Streckenmeter. Am Ende gibt es keine Hindernisse oder Felsen. Lasst einfach ausgleiten“, gibt Marjiory auf den Weg. „Und denkt daran: Wenn ihr die Schnur wie einen Zügel beim Pferd anzieht, um es zum Stehen zu bringen, werdet ihr umso schneller!“
Adrenalin pur
Der Augenblick ist gekommen: der Gang an den Abgrund. „Verdammt“, entfährt es einem der Freizeitabenteurer, dem das Herz in den Overall rutscht. Marjiory steht am Steilhang knöcheltief im Schotter und wacht über die Abstände ihrer Wagemutigen. Co-Begleiter Henry lässt seinem Machotrieb freien Lauf und verschwindet in einer schwarzen Wolke. Der Ritt in den Abgrund setzt voraus, das Hirn auf „Off“ zu stellen.
Wer mit 50 km/h über Vulkanasche schießen will, blendet besser den Verstand aus. Das Board beginnt langsam und ist dann kaum zu halten. Vor allem deswegen, weil man in der Aufregung doch die Schnur anzieht wie auf dem Rücken eines Gauls. Es knirscht und knackt und staubt. Rundherum sprengen Lavapartikel weg. Ständig klackt es auf der Schutzbrille. Die Haltung verkrampft, der Magen ebenso. „Nur geradeaus, nimm’ die ausgefräste Bahn vor dir, die sieht gut aus“, meldet sich eine Stimme aus dem Tiefinnern. Die Tiefe rückt näher. Pures Adrenalin. Dann der Auslauf. Ende der Gleitzeit. Unfallfrei geschafft. Das Gesicht ist geschwärzt. Das Haar fühlt sich wie Stroh an.
Als das Hirn beim Gang zurück zur Rangerstation in den „On“-Modus findet, bleibt ein Rätsel: warum der Cerro Negro, das Szenario für das touristische Sandboarding-Spektakel, offiziell als Naturschutzgebiet ausgewiesen ist …
Fotos: Andreas Drouve