Karsten muss es wissen, denn er hat hier das Licht der Welt erblickt, und genießt jetzt, nach einigen beruflichen Abstechern auf das Festland, seinen Ruhestand: „Wenn man hier geboren ist, will man eigentlich gar nicht weg. Aber den meisten bleibt gar keine andere Wahl. Um so angenehmer ist es, wenn man zurückkommt.“ Für den rüstigen Rentner ist Wangerooge nichts anderes als Heimat – so einfach ist das. „Für mich gibt es keinen schöneren Platz als unsere kleine Insel. Sie ist ja schließlich die Perle der südlichen Nordsee!“ Und weil es dort so gemächlich und beschaulich zugeht und der Artenreichtum an Tieren und Pflanzen so enorm groß ist, gehört die Insel zum Unesco-Weltnaturerbe Wattenmeer.
Abitur gibt es nur auf dem Festland
Zur Welt kommen kann man auf der zweitkleinsten der sieben ostfriesischen Inseln nicht mehr, es sei denn, eine werdende Mutter hat sich für eine Hausgeburt entschieden. Das Krankenhaus gibt es nicht mehr, nur zwei praktische Ärzte und ein Dentist sind für die medizinische Betreuung zuständig.
Wer schulisch vorankommen will, der muss das Eiland verlassen, denn die Gymnasialzeit endet mit der zehnten Klasse – Abitur gibt es nur auf dem Festland.
Beruflich sind den Menschen auf Wangerooge ebenso Grenzen gesetzt. Wer mit dem Tourismus zu tun hat, und sei es nur im Entferntesten, der bleibt, alle anderen „wandern aus“. Viele von ihnen überkommt aber irgendwann, oft schneller als gedacht, das große Heimweh. Doch Jobs sind rar. Aber es findet sich meist ein Weg, der oft damit endet, nach der Rückkehr eine ganz andere Arbeit anzunehmen als die, der man auf dem Festland nachgegangen ist. Andere, die, aus welchen Gründen auch immer, die Insel verlassen haben, können es sich dagegen nicht mehr vorstellen, zurückzukommen – höchstens in den Ferien.
Touristen sind rar gesät
Apropos Ferien: Wangerooge ist eine herrliche Sommer-Destination, doch derjenige, der das Eiland im Winter besucht, macht nichts falsch, im Gegenteil – es hat in der kalten Jahreszeit vor allem eines zu bieten: Viel, viel Ruhe. Entschleunigung und Entspannung heißen die Zauberworte! Auch, weil Touristen in der Zeit zwischen Oktober und März rar gesät sind. Sich aus dem Weg zu gehen, ist dann unmöglich, man sieht sich. Irgendwo und irgendwann. Und das „Moin“, das zu jeder Tages- und Nachtzeit und überall freundlich erklingt, wird nicht nur den Einheimischen überlassen.
Die komplette Insel scheint innezuhalten. Selbst dann, wenn sich in den Tagen zwischen dem Unsinnigen Donnerstag und dem Faschingsdienstag ein paar Menschen mehr auf der Insel tummeln als sonst im Winter. Sogenannte Karnevalsflüchtlinge – wir Bayern würden Faschingsmuffel sagen – reisen dann, vor allem aus den Hochburgen Köln und Düsseldorf an, um daheim dem bunten Treiben aus dem Weg zu gehen.
„Besenwerfen“
Damit aber doch etwas Stimmung aufkommt, veranstalten die Einheimischen am Rosenmontag das „Besenwerfen“. Dabei schleudern zwei Mannschaften Reisigbesen und versuchen, soweit wie möglich zu kommen. Wer als erstes ein Gasthaus oder eine Kneipe erreicht, wird vom unterlegenen Team auf eine Runde eingeladen. Alternativ gibt es einen ähnlichen Brauch für die jungen Damen im Ort, die eine Handtasche als Wurfobjekt hernehmen. Am Aschermittwoch ist dann alles vorbei, die „Flüchtlinge“ reisen ab, und die wenigen Urlauber genießen wieder die ganz besondere Atmosphäre, die Stille, die einmalige Wolkenstimmung, die sanften Farben und das in den Abendstunden besondere Licht.
Nichts erinnert an den Sommer, die Insel zeigt sich nach durchaus aufregenden und unruhigen Monaten unbeabsichtigt poetisch. Strandkörbe sucht man weiterhin vergebens – sie scheinen wie vom Erdboden verschluckt zu sein – auch Sandburgen, Bretterbuden, Kioske oder eine Eisdiele, die geöffnet hat. Viele Geschäfte haben geschlossen, das eine oder andere Restaurant ebenso. Rieka Beween von der Kurverwaltung erklärt: „Die Grundversorgung ist aber gesichert, wir Insulaner müssen uns ja auch versorgen. Und die Geschäftsleute brauchen auch mal Urlaub.“ Hier und da sind Handwerker zu Gange, um Schäden der Sommersaison zu reparieren, Gemeindearbeiter bessern etwaige Blessuren an der Strandpromenade aus, eine Fachfirma prüft die Kanalisation. Die Winterpause wird sinnvoll genutzt. Spätestens zu Ostern muss alles auf Vordermann gebracht worden sein.
Reizklima ist gur für die Atemwege
Ein Strandspaziergang ist eine regelrechte Wohltat. Wer denkt, irgendwo besser als dort aktiv die Natur zu erleben, scheint diesem Wintermärchen gegenüber taktlos zu sein. Das die Heilung fördernde Reizklima ist gut für die Atemwege, bei allergischen Erkrankungen und Hautleiden – ein weiterer touristischer Pluspunkt.
Das Meer rauscht ununterbrochen, die Nordseewellen schäumen schier über, der Himmel ist stahlblau. Der Sand von der Kälte durchgefroren, ein Einsinken beim Laufen unmöglich. Am Horizont sind einige Containerschiffe zu sehen, die, wie an einer Perlenkette aufgereiht, darauf warten, in den Hafen von Wilhelmshaven, Bremerhaven oder Cuxhaven einlaufen zu dürfen, um dort gelöscht zu werden.
Relativ zügig wird das Ortszentrum verlassen. Bald sind die befestigten Wege, die durch Dünen und Salzwiesen führen, aber aus Inselschutzgründen nicht verlassen werden dürfen, die einzige Möglichkeit, nach Westen zu kommen, weil die Flut mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit naht. Vögel, die nicht den Weg in den Süden angetreten haben, haben hier einzigartige Möglichkeiten des Überwinterns. Dort im Westen befindet sich die Westlagune, der Westturm, in dem eine Jugendherberge untergebracht ist, die Nationalparkstation West und der neue Leuchtturm.
Der Strand findet kein Ende
In Richtung Osten marschierend, so scheint es, findet der offenbar endlose Strand kein Ende, Körper und Geist verlieren sich allmählich in der Weite der Leere. Was als kurzer Spaziergang angedacht war, endet in einer ausgedehnten Wanderung – etwas Gesünderes für Leib und Seele gibt es nicht. Der auffrischende Wind wird zur Nebensache. Je weiter man sich vom Zentrum entfernt, desto naturbelassener und einsamer wird es. Eine Augenweide sind die windgepeitschten Sanddünen-Landschaften. Strandspaziergänger sind an den Fingern einer Hand abzuzählen. Eine davon ist Anke. Sie sagt völlig zurecht: „Hier gibt es so viel Sand, dass man meinen könnte, in der Wüste zu sein.“
Bei der Rückkehr gibt es als Belohnung einen steifen Grog, einen süffigen Sanddorn-Glühwein oder eine Tasse Ostfriesentee mit Kluntje (Kandiszucker) und flüssiger Sahne.
Beschaulichkeit ist Trumpf
Die Einheimischen leben nach dem Motto: „Gott schuf die Zeit, von Eile hat er nichts gesagt.“ Das Inselleben ist beschaulich, die Menschen lässig in ihrer Art und die Winter-Urlauber wirken vom ersten Tag an wie stressbefreit. Autos gibt es keine, außer einem Krankenwagen, mehreren Feuerwehrfahrzeugen und einem Müllauto. Hupen, aufheulende Motoren, Handygeklingel: Fehlanzeige.Wichtigstes Verkehrsmittel ist die Inselbahn. „Denn“, so berichtet Gästeführerin Christine Hogrefe-Ommen, „muss alles, was größer als ein Sandkorn ist, hergebracht werden.“
Nicht zu vergessen ist das Fahrrad, das für die Insulaner, trotz der kurzen Wege im Ort, eine ganz große Bedeutung hat, und rund um die Uhr im Einsatz ist; selbst die kürzesten Strecken werden damit zurückgelegt.
Informationen: Kurverwaltung Wangerooge, Obere Strandpromenade 3, 26486 Wangerooge, Tel.: (04469) 990; E-Mail: kurverwaltung@wangerooge.de; Internet: www.wangerooge.de
Anreise: Vom Anleger auf dem Festland in Harlesiel aus mit der Fähre, die mehrmals am Tag ablegt (der Fahrplan ist tideabhängig) in zirka einer Stunde zur Inselbahn; diese bringt die Gäste zum Inselbahnhof, der nur zehn Gehminuten vom Zentrum entfernt ist. Wer es nicht erwarten kann, auf die Insel zu kommen, fliegt in nur fünf Minuten von Harlesiel aus mit dem Inselflieger (acht Fluggäste haben Platz) direkt zum kleinen Insel-Flughafen. Auch von dort aus sind es nur zehn Minuten ins Zentrum.
Mit dem Schiff: Auskunft erteilen der Bahnhof Harlesiel, Tel.: (04464) 94 94 11, und der Bahnhof Wangerooge, Tel.: (04469) 94 74 11.
Mit dem Inselflieger: Auskunft erteilt FLN FRISIA-Luftverkehr GmbH Nordeich, Tel.: (04464) 9 48 10, und die Buchungsstelle Wangerooge, Tel.: (04469) 17 55.