In Kanada sind längere Zugfahrten vor allem eine Touristenattraktion, denn wer das Land mit der Bahn bereist, muss Zeit mitbringen. Der Fernverkehr rollt nur alle paar Tage – und das mit einer Spitzengeschwindigkeit von 130 km/h.
„Die tausend Kilometer von Vancouver bis Jasper in den Rocky Mountains durchfuhr der Zug in zwanzig Stunden“. Diese Zeilen schreibt der Reisejournalist C.B. Schwerla, als er im Jahre 1930 mit dem Zug durch Kanada fährt. Es hat sich nichts geändert. Gut hundert Jahre später braucht der „Canadian“, wie der Zug auf der Strecke genannt wird, noch genauso lange. Mit den europäischen Schnellzügen ist er mitnichten zu vergleichen. Mit rund 85 Kilometern pro Stunde bummelt er durch Kanada. Nur in der Prärie, wo es schön eben ist, drückt der Lokführer mal so richtig auf die Tube: „Dann fährt er bis zu 130 km/h!“, sagt der Schaffner.
Eilig sollte man es nicht haben
Wer an einem von drei Tagen, an denen der Zug überhaupt fährt, einsteigt, der hat es nicht eilig, der weiß: „Der Weg ist das Ziel“, oder auch: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Und wer sich wirklich dazu entschieden hat, mehr als einen Tag und eine Nacht mitzufahren, anstatt das Flugzeug zu nehmen, der ist sowieso Tourist.
Karla hat es sich mit Wolldecke und Kissen auf ihrem Zweiersitz im Großraumabteil gemütlich gemacht, wo sie nun die nächsten vier Tage ausharren wird. Sie ist froh, dass keiner neben ihr sitzt, und wirkt entspannt. Es mache ihr nichts aus, so lange ohne Bett auszukommen, sagt die 69-Jährige. „Ich habe kurze Beine und man kann ja das Fußteil hochklappen.“ Hätte sie sich für einen der hinteren Waggons entschieden, wo die Liegeabteile untergebracht sind, hätte sie mindestens das Doppelte des Preises gezahlt, rund 800 Euro.
Atmosphäre wie auf Klassenfahrt
Der Zug ist am Morgen um 9.45 Uhr in Toronto losgefahren. Bis er in Vancouver ankommen wird, hat er rund 65 Bahnhöfe passiert, an manchen von ihnen wird er für viele Stunden halten. Die Atmosphäre im Zug entwickelt sich derweil zu der auf einer Klassenfahrt. Ein paar junge Mädchen sitzen zusammen, Kopfhörer im Ohr, und essen Chips. Im Waggon nebenan füllen sich die vier Sitzgruppen mit Fahrgästen. Auf dem türkisfarbenen Kunstleder darf man sich niederlassen auch ohne ein Getränk zu bestellen und eine junge Frau erzählt gerade einem Pärchen, wo sie herkommt und wo sie hinfährt. Ein paar teppichbelegte Stufen weiter oben drücken sich Kinder die Nase an den Panoramafenstern platt, während ihre Eltern die ersten Reisefotos schießen.
Im Panoramaabteil
Hier oben im Panoramaabteil, das sich auf rund jedem sechsten Waggon unter einer Kuppel über die Dächer erhebt, spielt sich das wahre Leben des Zuges ab: Wer unter dem gebogenen Plexiglas sitzt, genießt einen 360 Grad-Ausblick. Die Landschaft Ontarios zieht vorbei. Hellgrüne Birkenwälder und tannenumstandene tiefblaue Seen wechseln einander ab. Viele der Gäste haben sich nun Pullover übergezogen. Im Gegensatz zum Großraumabteil unter ihnen ist es hier oben recht kühl. Erst zum Schlafen steigen sie hinab in die Wärme und ziehen die Knie an die Körper, während sie versuchen, es sich auf ihren zurückgeklappten Polstersitzen so gemütlich wie möglich zu machen. Wer Glück hat, hat zwei davon für sich alleine.
Einen Tag später ist der Zug noch immer in der Provinz Ontario. Gegen Mittag hält er kurz vor einem Gartenzaun. Ein Mann steigt aus. Die Zugbegleiterin reicht ihm sein Gepäck nach unten. Beladen mit Taschen und einem Pappkarton verschwindet er über eine Wiese zwischen Birken. Dann die Botschaft per Bordlautsprecher: „Meine Damen und Herren, wir überfahren soeben die Grenze nach Manitoba.“ Ein paar Informationen folgen – wovon man in Manitoba so lebt und was es zu sehen gibt.
Derweil hat sich Karla auf einem der weiß lackierten Rohrstühle im Speisewagen niedergelassen, wo sie den Deckel ihres Take-away-Pappkartons zurückklappt. Heute hat sie sich für Käsecannelloni entschieden; dem Lachs, der auch an Bord angeboten wird, traut sie nicht. „Ich komme aus Seattle. Da wird der fast täglich frisch aus dem Wasser gezogen.“ Während ihres Lunchs schaut sie über die Kunststoffplatte des Tisches hinweg auf die Landschaft, die am Fenster vorbeizieht. Ab und zu passiert der Zug Baumstümpfe, die aus Sumpfgebiet ragen. Sandige Hügel erheben sich und flachen wieder ab. Häuser wird es auf der gesamten Strecke relativ selten zu sehen geben.
Musiker im Zug
„Die Musiker gestern nachmittag haben mir gefallen“, plaudert die Amerikanerin mit dem grauen Pagenkopf. Sie spricht von dem gut 30-minütigen Konzert, das eine Sängerin und ihr Gitarrist im Zug gegeben haben. Songs von den Beatles gehörten zu ihrem Repertoire und andere Klassiker. „Ja, wir laden auf fast jeder Fahrt Musiker ein, um die Fahrgäste zu unterhalten“, sagt eine Schaffnerin auf Befragen. „Das sei üblich.“ Mal spielten sie vorne, in der Economy Class, mal hinten in den Gemeinschaftsabteilen der Schlafwagen.
Und dann, am Abend des zweiten Tages, die Glieder sind schon ganz steif, heißt es: „Meine Damen und Herren, in Kürze erreichen wir Winnipeg.“ Wer bis dahin niemanden kannte, tut sich spätestens jetzt mit seinen Mitreisenden zusammen. Es sind drei Stunden Zeit und die wollen genutzt sein. Wer weiß, wann es wieder die Gelegenheit zu einem Spaziergang gibt. Grüppchen bilden sich, die sich die 660.000-Einwohner-Stadt erobern, am Fluß entlang laufen, den Kopf vor der verspiegelten Fassade des „Museums für Menschenrechte“ in den Nacken legen und zum Schluss ein Bier an den breiten Treppen am Fluss trinken. Im Gegensatz zum Osten ist es hier in der Mitte des Landes richtig heiß und ein junger Mitreisender flüstert: „In Jasper soll es ein Geschäft geben, in dem man für fünf Dollar duschen kann. Aber nicht weitersagen! Sonst gibt´s da morgen ´ne Riesenschlange.“
Durch die Rocky Mountains
Es war Kent Nagano, der japanische Dirigent, der Anfang des Jahres in einem Interview von einer Banhreise durch Kanada erzählte. „Die geografische und soziale Dramaturgie entlang der Strecke von Küste zu Küste ist atemberaubend“, schwärmte er. Seine Worte kommen in den Sinn, als sich der Zug an Tag drei durch die Rocky Mountains arbeitet. Wälder ziehen vorbei, darüber weiße Berggipfel. Das Nebelhorn tönt, immer wieder warnt der Lokführer den entgegenkommenden Verkehr, und dann taucht für einen kurzen Moment Mount Robson zwischen den Baumwipfeln auf. Der schneebedeckte Kubus ist mit rund 4.000 Metern der höchste Berg der kanadischen Rockies. Hoch über der Plexiglaskuppel des Zuges posiert er vor strahlend blauem Himmel. Doch er ist nicht nur schön; unter Bergsteigern ist er bekannt für seine herausfordenden Aufstiege aufgrund seiner steilen Hänge, unerwarteten Wetterwechsel, Eis und Steinschlag. „Ein Bär“, ruft jemand im nächsten Moment und der Gigant ist vergessen. Links am Bahndamm sitzt ein Schwarzbär und reckt die Nase in die Luft. Wer Glück hat, konnte eine verwackeltes Foto schießen.
Heutzutage spielt die kanadische Eisenbahn für den Personentransport kaum mehr eine Rolle. Doch 1886 trug sie maßgeblich zur Besiedelung des kanadischen Westens bei: Erst nachdem die rund 4.500 Kilometer lange transkontinentale Bahnstrecke zwischen Montréal und Vancouver fertiggestellt war, besiedelten mehr und mehr europäische Einwanderer auch den westlichen Teil des zweitgrößten Landes der Erde. Zuvor waren die meisten, mit dem Schiff über den Atlantik kommend, im Osten geblieben. Der Bau der kanadischen Eisenbahn galt 1871 als Versprechen: Würde der bisher unabhängige Westküsten-Staat British Columbia der kanadischen Konföderation beitreten, sollte sie gebaut werden. In nur fünf Jahren gelang es der eigens hierfür gegründeten Canadian Pacific Railway Company, die Trasse fertigzustellen – dank des Einsatzes mehrerer tausend Arbeiter, darunter 15.000 chinesischer Gastarbeiter, die den gefährlichen Konditionen trotzten.
Vor allem für den Güterstransport
Heutzutage spielt das Streckennetz vor allem für den Warentransport eine große Rolle. Insgesamt 5,3 Millionen Waggonladungen werden pro Jahr über die Gleise bewegt. Beim Abstieg aus den Rocky Mountains fährt man minutenlang an Zügen vorbei, die mehr als 120 Güterwagen zählen. Von Lebensmitteln, über Kohle, Maschinenteilen, Chemikalien bis hin zu Metall, Holz und Papier können sie nach Angaben der Railway Association of Canada alles enthalten.
Die Silberschlange erreicht Vancouver
Am Abend vor Ankunft in Vancouver erreicht der Zug wieder annähernd Meersspiegelniveau. Und wieder einmal hat sich die Landschaft komplett verändert. Sie ist mit nichts zu vergleichen, was sich bisher auf der Strecke bot. Vielmehr erinnert sie zunächst an den deutschen Schwarzwald, später an die Rheinebene, an die Gegend bei Sankt Goarshausen. Wieder später, pünktlich zum Sonnenuntergang lässt sie an die sanften Hügel der Toskana denken.
Die Silberschlange windet sich mal nach rechts, mal nach links, das Alumium glänzt im roten Abendlicht. Ein letztes Mal machen es sich die Passagiere so gut es geht auf den Polstersitzen bequem. Dann, am nächsten Morgen die Lautsprecherdurchsage: „Meine Damen und Herren, wir erreichen in Kürze den Bahnhof von Vancouver. „Thanks for travelling…“
Informationen
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Zugtickets können auf viarail.ca gebucht werden. Das Unternehmen bietet verschiedene Railcanpässe an; unter anderem einen 60 Tage gültigen, der sechs Fahrten ermöglicht (ca. 600 Euro). So genannte Multicity-Tickets wiederum eignen sich für Reisen mit einem Zwischenstopp. Bei der Planung sollte man beachten, dass Fernzüge nicht täglich verkehren, sondern nur zwei bis drei Mal pro Woche.
- Es existiert keine durchgängige Verbindung von der Ost- zur Westküste. Zwischen der Hafenstadt Halifax und Montréal verkehrt der so gennante „The Ocean“, auf der Strecke Toronto – Vancouver rollt „The Canadian“.
- Essen&Trinken: An Wasserspendern in den Gängen können die Fahrgäste kostenlos ihre Wasserflaschen auffüllen. Mahlzeiten kosten rund 10 kanadische Dollar.
- Umwelttipp: Das Zugpersonal füllt Kaffee auch gerne in mitgebrachte wiederverwendbare Becher.
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Internet: Auf der Strecke zwischen Toronto und Vancouver gibt es kaum Internetempfang.
Fotos: Uta Nabert
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