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Weimar 2013: Ende der Pèlerinage – der Pilgerzug geht weiter

Man mag den Atem anhalten. Eine Zäsur, die Zukunft liegt im Dunkeln. Sie mag beides bieten: Stagnation oder dynamische Fortführung. Das Kunstfest Weimar 2013, von 23.8. bis 14.9., geht in die letzte Saison mit Nike Wagner als künstlerischer Leiterin. Das Ende der zehnjährigen Pèlerinages, der Pilgerwanderungen.

Das Kunstfest Weimar ist die letzte Kunstfest-Saison, die von der künstlerischen Leiterin Nike Wagner verantwortet wird. - Foto: Stephen Lehman

Das Kunstfest Weimar ist die letzte Kunstfest-Saison, die von der künstlerischen Leiterin Nike Wagner verantwortet wird. – Foto: Stephen Lehman

Nike Wagner lotet gerne die Grenzbereiche der Kunst aus. So sagte sie vor Jahren den „Thüringer Lebensarten“ in den drei Zeitungen der Zeitungsgruppe Thüringen: „Thematisiert werden die Grenzen der Vernunft oder besser: die Durchlässigkeit der `Normalität` für das dunkle Reich dahinter. Das muss ja nicht gleich das Reich des Irrsinns sein. Es ist auch das der Phantasie und der Kunst. Ein Irrlicht führte Faust in die Walpurgisnacht, in unseren `Irrlichtern` werden die seltsamen Welten von Künstlern sichtbar, die unsere Wirklichkeit anders wahrnehmen.“

Wer wird die Wirklichkeit künftig anders wahrnehmen? Wer letztes Jahr den Via Crucis des Franz Liszt, ihres eigenen Ahnen, ging, der wusste, dass diese kleine Stadt in Thüringen kein Provinznest ist, in dem pfeifend der Regionalzug einfährt.

Ein Gefühl des Heimkommens

Hier hatte Johann Wolfgang von Goethe seine erste Wohnung, heute hat die ACC Galerie Weimar in diesem Gebäude ihre Heimat gefunden. - Foto: Anselm Graubner

Hier hatte Johann Wolfgang von Goethe seine erste Wohnung, heute hat die ACC Galerie Weimar in diesem Gebäude ihre Heimat gefunden. – Foto: Anselm Graubner

„Manchmal überkommt mich Heimweh, wenn ich durch Weimar gehe“, sagte Nike Wagner in dem Interview, „oder auch das Gefühl des Heimkommens. Das hat nichts mit den Verwandten zu tun, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, sondern mit halbbewussten Erinnerungen aus der Kindheit, mit Ansichten und Gerüchen. Auf den Straßen dieselbe Pflasterung, auf den Parkwegen dieselben Naturbotschaften: die Rokoko-Kultur mit Schlössern und Gärten prägte ja auch Bayreuth, bevor Wagner kam.“

Weimar hat wieder eine führende Rolle im kulturellen Bewusstsein übernommen. Tübingen, die Heimat von Walter Jens, ist nach seinem Tod verwaist. In der Residenzstadt Weimar quirlt es, wegen der Stiftung Weimarer Klassik und anderer. Sanierungen, neue Projekte, ein Bauhaus-Museum. Die Musikhochschule und die Bauhaus-Uni.

„Das Problem Weimars ist seine kleine Größe. Selbst wenn die Anzahl derer wächst, die sich für die zeitgenössische Bestrebungen interessieren, sind es immer zu wenig. Auch traditionell war Weimar nie eine Stadt der Moderne, das schlägt immer wieder durch. Weimars Winkeligkeit ist für Kenner und Liebhaber, nie für die Masse. Weimars Ruhm ist aus der frühbürgerlichen Geistigkeit entstanden, aus der höfischen Intimitätskultur, ist auch später immer differenziert geblieben, vielgestaltig, vielseitig. Marketingtechnisch ist das ungünstig, geistig aber unverzichtbar.“ So Nike Wagner.

Das Motto lautet: „Wagner-Idyll“

Preisgekrönte Architektur: die Weimarhalle, eine der Spielstätten. Foto: Maik

Preisgekrönte Architektur: die Weimarhalle, eine der Spielstätten. Foto: Maik

Nun das Ende der Pèlerinage mit Richard Wagner. Zur Feier seines 200. Geburtstages. „Wagner-Idyll“ lautet das Motto. Wagner steht für Überdimensioniertes, das Idyll verbindet man mit dem lauschigen, kleinen Weimar. Das Kunstfest zeigt einen Wagner im Spiegel der zeitgenössischen Künste. Was interessiert Künstler heute an Wagner? Wie gehen sie kreativ mit Wagner um? Das Programm bezieht alle Kunstgattungen mit ein und strebt ein Gesamtkunstwerk an. Es gibt Wagner-Paraphrasen und -Phantasien, Wagner-Konstruktionen und – Dekonstruktionen, Wagner im Lied, im Film und auf dem Puppentheater, Wagner medial, installativ, performativ und in der Diskussion.

Mit dem Wagner-Idyll von Dieter Schnebel, dem originellsten Komponisten der älteren Generation, wird das Kunstfest eröffnet. Es gibt einen Ring des Nibelungen, der weder 16 Stunden braucht noch eine große Besetzung. Das Salzburger Marionettentheater führt ihn auf, an einem Abend und sehr vergnüglich – Wagner auch für Nicht-Wagnerianer.

Büsten im Goethehaus. - Foto: Hans-Herbert Holzamer

Büsten im Goethehaus. – Foto: Hans-Herbert Holzamer

Es gibt einen Liederabend mit französischen Liedern des Franzosenhassers Wagner, einen „Nieder mit Wagner!“- Abend“ aus dem Geist der Music-Hall, eine choreographische Erforschung der Wagnerklänge (Rheingold Resonanzen), eine Diskussion über den Wagnergesang heute und gestern, eine ganze Wagner-Filmreihe und vor allem den sensationellen Wagner-Stummfilm aus dem Jahr 1913 mit Live-Orchester.

Mittelpunkt der deutschen Kultur

Weimar, das ist die Heimat eines jeden Deutschen. Weil Weimar der Mittelpunkt der deutschen Kultur ist. Goethe, Schiller, Liszt, Nietzsche, Herder, Wieland. Weil Weimar Mittelpunkt der deutschen Staatlichkeit ist. Geburtsort der Verfassung, die den Namen der Stadt trägt. Weil Weimar die Janusköpfigkeit des Deutschen zeigt. Höhe Klassik, Abgrund Buchenwald. Und seiner Heimat muss man gelegentlich einen Besuch abstatten, um den Kontakt, die Beziehung nicht zu verlieren.

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist eine öffentlich zugängliche Forschungsbibliothek für Literatur- und Kulturgeschichte mit Schwerpunkt auf der deutschen Literatur der Zeit um 1800. - Foto: Hans-Herbert Holzamer

Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek ist eine öffentlich zugängliche Forschungsbibliothek für Literatur- und Kulturgeschichte mit Schwerpunkt auf der deutschen Literatur der Zeit um 1800. – Foto: Hans-Herbert Holzamer

Aber wenn man Weimar gar nicht kennt? Dann muss man sich damit befassen, es erwerben, um es zu besitzen, als Heimat. Diese Tage bieten sich dazu gute Gelegenheiten. Natürlich stehen Goethe- und Schillerhaus auf dem Programm, die Schlösser, die Plätze, die Altstadt, der Park an der Ilm.

Ein Weg führt ins Neue Museum zu Henry van de Velde. Weimar feiert den 150. Geburtstag des Designers, des große Neuerers und Impulsgebers einer ganzen Generation moderner Künstler. Weimar war von 1902 bis 1917 Zentrum seiner europäischen Wirksamkeit, er hat viele der wichtigsten Werke hier geschaffen. Neben dem Ensemble der beiden Kunstschulbauten, heute Zentrum der Bauhaus-Universität und seit 1996 Teil des UNESCO-Weltkulturerbes, realisierte van de Velde in Weimar vornehmlich Wohnungseinrichtungen, sein eigenes Wohnhaus und zwei Stadtvillen. Alle Gebäude sind weitgehend erhalten.

Ein Abend mit Cora Irsen

Idyllisch gelegen: Goethes Gartenhaus. - Foto: Hans-Herbert Holzamer

Idyllisch gelegen: Goethes Gartenhaus. – Foto: Hans-Herbert Holzamer

Ein Abend bleibt Cora Irsen vorbehalten Sie ist Preisträgerin des Internationalen Franz-Liszt-Wettbewerbs und des Internationalen Chopin-Wettbewerbs. Heuer präsentiert die Künstlerin in Weimar zwei Konzert-Reihen: „Eine mystische Klangwelt – Richard Wagner“ und „Clara zwischen Robert Schumann und Johannes Brahms“.

Es ist leicht, sich seiner Heimatstadt Weimar zu nähern. Dieses Weimar, das es zu erwerben gilt, ist nicht statisch, ist nicht nur die deutsche Klassik. Ist modern, Avantgarde und widersprüchlich, ist ein Pilgerzug in eine unbekannte Zukunft des Darstellens und des Empfindens. Das ist elementar wichtig, um Heimat zu sein und kein Museum, und für die Kulturschaffenden der Stadt, vor allem die der Klassik-Stiftung, eine gigantische Aufgabe.

Wenn die Pèlerinage auch nach diesem Sommer Geschichte sein wird. Der Pilgerzug geht weiter, solange es Zukunft gibt, gibt es Kultur.

Raushier-Reisemagazin