Wo vor etwa 10 000, vor gar nicht allzu langer Zeit also, die Natur karg und eintönig war, wo es kaum Bäume gab, dafür jede Menge Flechten, Gräser und Moose, die Landschaft mehr oder weniger wie eine Steppe aussah, wo der Mensch, der dort vereinzelt wohnte – die ersten Menschen wurden erst etwa 5000 Jahre später an der Nordseeküste sesshaft – vorwiegend von der Jagd lebte und sich das Gebiet mit Mammuts, Wildpferden und Rentieren teilte, dort wächst heute kein Gras mehr, zumindest nicht auf den ersten Blick. Denn dort hat sich das Wasser seinen Weg gebahnt – das Wattenmeer Nordsee war entstanden.
Als England noch keine Insel war
Bis dahin lagen weite Teile der heutigen Nordsee trocken. England war noch keine Insel, und der Rhein war ein Nebenfluss der Themse. Die einst riesigen Gletscher in Nordeuropa schmolzen, weil die Temperaturen ansteigen, immer mehr, die riesige, flache Ebene wurde mit (Eis)wasser überzogen, der Meeresspiegel stieg kontinuierlich – in den letzten 10 000 Jahren um unglaubliche 100 Meter.
Heute ist die Nordsee ein wichtiger Schifffahrts-Handelsweg, an deren Küsten etwa 80 Millionen Menschen leben. Die Küstenregion „Wattenmeer“ ist größtenteils noch unberührt.
Unter dem Meeresboden befinden sich gewaltige Erdöl- und Erdgasvorkommen. Das ist die positive Nachricht. Schlecht sieht es dagegen um den Fischbestand aus. Denn durch die kommerzielle Hochseefischerei hat sich dieser in den vergangenen Jahrzehnten stark vermindert.
Wattenmeer – der Begriff Watt entstammt dem altfriesischen Wort wad (seicht, untief) – bezeichnet bestimmte Küstenbereiche, die unter dem starken Einfluss von Ebbe und Flut stehen. Weite Flächen ‚fallen‘, so der Fachausdruck, alle sechs Stunden am Tag ‚trocken‘ (Ebbe) und sind während der Hochwasserzeit (Flut) überflutet. Dadurch ist natürlich eine gewisse Dynamik allgegenwärtig, das Meer bestimmt das Tempo der Bewegung. Und die Lebewesen passen sich an.
Seit 2009 UNESCO-Weltnaturerbe
Seit Juni 2009 ist das gesamte Wattenmeer (das ist der schleswig-holsteinische, niedersächsische und niederländische Wattenmeerbereich; der dänische Bereich folgte 2014) UNESCO-Weltnaturerbe, das heißt, seine Bedeutung für den Erhalt der Artenvielfalt sowie die ökologischen und geologischen Prozesse sind weltweit herausragend; ferner muss ein Weltnaturerbegebiet vollständig und intakt sein; die Natur unterliegt einem strengen Schutz. Es ist eines der letzten großflächigen Naturlandschaften Mitteleuropas.
Alle Lebewesen, die in und um das Wattenmeer ihren Platz gefunden haben, passen sich, hervorgerufen durch die Gezeiten, den immerwährenden Veränderungen perfekt an. Ob Mikroorganismen oder Kleinstlebewesen, ob Fische, Vögel oder Säuger, jede Art und Gattung hat sich spezialisiert. Manche verbringen ihr gesamtes Leben nur im Watt, manche ausschließlich in der Salzwiese, wieder andere ihre Jahre nur in einem bestimmten Revier des Wattenmeers. Alles in allem ist dort jede Menge los. Naturvorgänge zwischen Wasser und den Landschaftssystemen Geest, Marsch und Moor können sich hier noch weitgehend unbeeinflusst vom Menschen entfalten. Getreu dem Motto: „Natur Natur sein lassen!“
Drehscheibe des Vogelzugs
So ist das Wattenmeer das vogelreichste Gebiet Europas und – weil es so zentral liegt – als Drehscheibe des ostatlantischen Vogelzuges vorzüglich geeignet. Zehn bis zwölf Millionen Zugvögel nutzen es als nahrungsreiche Zwischenstation und Rastgebiet. Die Zugvögel „pendeln“ zwischen Südeuropa, Afrika, Sibirien, Skandinavien, Kanada oder Grönland. Zweimal im Jahr kommen sie dabei ins niedersächsische Wattenmeer: im Frühjahr auf ihrem Weg in die Brutgebiete, und im Herbst in die Überwinterungsregionen. Es ist ein regelrechtes Schauspiel, wenn diese Vögel in spektakulären Formationen über das Wasser „schweben“.
Im Wattenmeer, dem zentralsten Rastplatz des ostatlantischen Vogelzuges, finden die „Vielflieger“ alles, was sie benötigen, um weite Strecken zurückzulegen. Bestes Beispiel ist der Rote Knutt. Er frisst sich im Frühjahr derartig viele Fettreserven an, dass er sein Gewicht nahezu verdoppelt. Dann gehts los zur Brutsaison in den hohen Norden. Im Herbst das selbe „Schauspiel“: es muss „aufgetankt“ werden für den langen Flug ins Überwinterungsgebiet. Ist der „Startvorgang“ gelungen, was bei dieser Gewichtszunahme gar nicht so selbstverständlich ist, legt er in nur 72 Stunden sage und schreibe 4000 Kilometer zurück, ohne Pause, ohne Schlaf – quasi ohne mit der Wimper zu zucken sind bei der Ankunft alle Fettreserven aufgebraucht, und der gute Knutt muss sich ersteinmal von den Strapazen ausruhen.
Ein einzigartiger Lebensraum
Aber nicht nur Vögel finden hier ein Paradies vor, zirka 10.000 andere Tier- und Pflanzenarten haben im Wattenmeer einen einzigartigen Lebensraum.
Die teilweise badewannenwarmen Priele sowie das ankommende oder abfließende Wasser, ausgedehnte Muschelbänke, dichte Seegraswiesen, blühende Salzwiesen, weiches Schlickwatt und die abwechslungsreichen Dünenlandschaften bieten vielen anderen (Säuge)tieren wie Seehund, Kegelrobbe, Schweinswal, Fuchs, Marder oder Iltis, um nur einige zu nennen, die geeignete Lebensgrundlage. Nicht zu vergessen sind bei den Vögeln neben Möwen, Enten, Schnäblern, Strandläufern oder Pfeifern der Seeadler, und bei den Fischen neben Hering, Seezunge, Butterfisch, Flunder, Meerforelle, Seenadel oder Scholle der Stör, für die das Wattenmeer eine perfekte „Kinderstube“ darstellt. Zudem haben die nordischen Wildgänse hier ein herausragendes Winterquartier.
Es kreucht und fleucht
Was so alles im Watt und im Schlickboden kreucht und fleucht, drücken Zahlen aus, die man gar nicht glauben kann. Pro Quadratmeter Wattboden finden sich: 10 bis 150 Sandklaffmuscheln, 150 bis 300 Herzmuscheln, 10 bis 70 Pierwürmer, auch Wattwürmer genannt, bis zu 4000 Seeringelwürmer, 500 bis 40 000 winzige Schlickkrebse, bis zu 30 000 Wattschnecken. Das Wattenmeer ist ferner Lebensraum für Pfeffermuscheln, Kotpillenwürmer, Tellmuscheln, Bäumchenröhrenwürmer, Miesmuscheln, Sandschnecken und viele andere mehr. Einige wohnen nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche, andere bis 40 Zentimeter tief im Boden. Im Watt zu leben heißt: Überlebenskünstler sein!
Hochspezialisierte Lebensgemeinschaften
In den Salzwiesen, die nur noch unregelmäßig überflutet werden, tummelt sich eine hochspezialisierte Lebensgemeinschaft – etwa 400 Insektenarten sind zum Beispiel auf nur 25 Blütenpflanzen spezialisiert. Kleine Krabbeltiere, Ameisen, Käfer und Spinnen finden einmalige Bedingungen vor. Es gibt sogar Arten, die nur dort leben können, wo eine bestimmte Pflanze wächst. Dort und anderswo gedeihen besondere Pflanzen, wie zum Beispiel Queller, Seegras, Strandaster oder Strandhafer, prächtig, haben sich über die Jahre hinweg durch den Einfluss von Salz und Wind, Überflutung oder Übersandung angepasst. Auch Pilze findet man.
Und die Dünen sind ebenso wertvolle Lebensräume für Tiere und Pflanzen. Sie bieten außerdem, als natürliche Wellenbrecher, Schutz vor Überflutungen.
Das Leben hinter dem Watt
Hinter dem Watt geht das Leben natürlich weiter. Auf den Deichen grasen Schafe, in der Heide sorgen Heckrinder, Konike (aus dem polnischen: kleines Pferd, Pferdchen) und Wisente als „lebende Rasenmäher“, wie es der Diplom-Biologe Bernhard Rauhut, Leiter des Wattenmeer-Besucherzentrums in Cuxhaven nennt. Dadurch bleibt die Landschaftspflege so natürlich wie möglich.
Die Zeiten, in denen technische Geräte die Deichpflege beherrschten, sind längst vorbei, auch weil dies auf Dauer zu teuer war. Die gute alte Tradition, Schafe auf den Deichen grasen zu lassen, hat sich durchgesetzt, und das nicht nur, weil es eine preiswerte Art der Erhaltung ist. Die Schafe sind zugleich Mähmaschinen und Deichschützer. Durch ihren festen Tritt mit ihren spitzen Hufen treten sie die Deiche fest.
Dass die Nordsee ein beliebter Anziehungspunkt für Urlauber ist, versteht sich von selbst. 23 Millionen Übernachtungen im Jahr lassen da keine anderen Schlüsse zu.
Weitere Informationen: Die Nordsee GmbH, Postfach 2106, D-26414 Schortens (die Nordsee GmbH ist die Dach-Marketinggesellschaft der Orte an der niedersächsischen Nordseeküste sowie Bremerhavens); Tel.: (04421) 956099-1; Internet: www.die-nordsee.de
Nationalparkverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer, Virchowstr. 1, D-26382 Wilhelmshaven, Tel.: (04421) 91 10; E-Mail: poststelle@nlpv-wattenmeer.niedersachsen.de; Internet: www.nationalpark-wattenmeer.de
Jedes Jahr gibt es auch Zugvogeltage an unserer Küste. Im Rahmen dieser Veranstalltungen kann man sich umfangreich über die Vogelwelt im Wattenmeer informieren!