„So eine Stadt gibt es nicht noch einmal/so groß und so schön wie sonst keine/eine Stadt mit so viel Herz, einfach unwiderstehlich/Stadt der Liebe, cidade mulher!“, so heißt es in einem Samba. Brasilianische Rhythmen waren bereits vor Rio de Janeiro angesagt. Die Escola di Samba, bestehend aus Passagieren des Schiffes, trommelte und stimmte auf Lateinamerika ein.
Statt des Sambas huldigt Recife dem Capoeira, einem Tanz, der zwischen Nahkampf und Bewegung ansiedelt ist.
Ähnlich diffizil sind die Doppelstädte Recife und Olinda: Hier Hochhaus an Hochhaus, dort barocke Bauten in Gärten mit üppiger Vegetation. Gemeinsam war beiden eine unbarmherzige Hitze gepaart mit hoher Luftfeuchtigkeit.
Endlich Rio
Nach zwei Tagen endlich Rio. Die Einfahrt mit dem Schiff ist grandios: Zum Greifen nahe der Zuckerhut, in der Ferne die Christusstatue, in der Morgensonne Gold glitzernde Hochhäuser und die weißen Strände von Ipanema und Copacabana. Anschließend der Blick vom 710 Meter hohen Corcovado mit dem 38 Meter großen Christus verzauberte Rio erneut. Lediglich die Favelas, die Armensiedlungen, die sich an den Hängen klammerten, trübten den Eindruck. Der Gegensatz zwischen Pracht und Mangel, zwischen Arm und Reich zeigte sich auch bei einem Spaziergang durch die Stadt. Prächtige Paläste, gepflegte Wohnhäuser und breite Alleen einerseits, andererseits ein unübersichtlicher Markt im Zentrum, eng und dunkel. Obwohl wir ihn nur streiften, war der Gestank von Urin und Blut nicht auszuhalten.
Am offiziellen Touristenstand erkundigten wir uns nach dem Kaiserpalast. Erstaunen bei den Damen vom Fach: Den Paco Imperial kannten sie nicht. Trotz ihrer Unkenntnis umkreisten sie eine Stelle auf dem Stadtplan. Dort fanden wir zwar nicht den Kaiserpalast, aber das aus einem Alt- und Neubau bestehende Museu de Belas Artes und nicht weit davon den Calatrava Bau des Museu de Arte moderna. Im Gegensatz zu den meisten Geschäften waren die Museen nicht geschlossen, sodass man Souvenirs erstehen konnte. Eigentlich dachten wir, Rio schlafe wie New York niemals. Doch da hatten wir uns gründlich getäuscht. In Erinnerung bleibt die wunderschöne Lage Rios und die Ungezwungenheit ihrer Bewohner, die ihnen trotz des Gefälles zwischen Arm und Reich und eines immer härter werdenden Drogenkriegs hoffentlich nicht verloren geht.
Montevideo erwacht
Als Montevideo allmählich erwachte, nahmen auch die Hüpf-auf-Hüpf-herunter-Busse ihren Betrieb auf. Für eine Rundfahrt benötigte man etwa zwei Stunden und vom luftigen Oberdeck sah man überraschend viele Bäume.
In jeder Straße wuchs eine andere Baumart. Tatsächlich machen die Bäume und Parks Montevideo zu einer Stadt im Grünen. Neben der Vegetation beachteten wir das Stadion der Fußballweltmeisterschaft von 1930, die Uruguay in Abwesenheit europäischer Mannschaften gewonnen hatte. Seitdem war das Stadion arg herunter gekommen. In Deutschland würde wohl kein Bundesliga-Verein solche Sportstätte den Zuschauern zumuten. In den Katakomben des Stadions ist eine Grundschule untergebracht, ohne richtigen Pausenhof und ohne ein einziges Spielgerät. Ob die Schüler den „heiligen“ Rasen betreten dürfen, blieb uns verborgen.
Die Fahrt der Busse endet am historischen Palast des Staatspräsidenten. Ihm gegenüber steht das Denkmal des Nationalhelden José Artigas (1764–1850), dessen Urne in einer imposanten Gruft aufbewahrt wird. Errichtet wurde das Monument in den 1970er Jahren, als politische Auseinandersetzungen das Land erschütterten und Uruguay sich seiner nationalen Identität von neuem versicherte. Im Dämmerlicht und in bedrückender Stille halten neben der Urne Soldaten in schicken Uniformen Ehrenwache; während oberhalb der Gruft der Verkehr tost.
Unweit dieses zentralen Platzes liegt eine Buchhandlung, von einer eleganten Treppe erschlossen und durch bunte Glasfenster belichtet. An den Wänden reihen sich Regale, vollgefüllt mit diversen Druckerzeugnissen. Ein Paradies für Leser und Bibliophile! In einem kleinen Café kann man neben Lese- auch Gaumenfreuden frönen. Unser Hunger war jedoch größer und im Land der Rinder lockte ein ordentliches Stück Fleisch. In der Markthalle gebe es die größten und wohlschmeckendsten Steaks Südamerikas, lautete ein Geheimtipp. So aßen wir dort Vacio fino, tranken heimischen Wein und waren hoch zufrieden. Der Tipp war völlig richtig.
Buenos Aires ohne Tango
Kein Tango bei Ankunft in Buenos Aires. Stattdessen Begrüßung durch einen Gaucho und eine Busfahrt mit zwei Stationen, der Casa Rosada und La Boca. Farbig sind beide: Der Präsidentenpalast rosa und das Arbeiterviertel am ehemaligen Hafen blau und gelb, den Farben des Fußballvereins Boca Juniors, für den einst Maradona spielte. Er, Evita Peron und Carlos Gardel sind überall an den Häuserwänden des Viertels präsent. Hat man Glück, taucht überraschend Maradona im Nationaltrikot hinter einer Hausecke auf und lässt sich gegen Entgelt fotografieren.
Fast unbekannt in seiner Heimatstadt scheint der berühmte Schriftsteller Jorge Luis Borges (1899-1986). An seinem angeblichen Geburtshaus verwies man uns auf ein Haus gegenüber. Dort kannte man ihn gar nicht. Beim nächsten Haus dasselbe. Als wir beim Theater Colon, eines der prächtigsten Opernhäuser dieser Welt, ankamen, stellten wir die Suche ein und bewunderten das Theater Cervantes, die nationale Sprechbühne Argentiniens, und die Synagoge, das Gotteshaus der nach New York größten jüdischen Gemeinde Amerikas. Dann Pause im Café Le moulin de la fleur, einer Boulangerie und Patisserie wie in Paris. Croissants, Baguettes und Brioches mitten in Buenos Aires. Eine köstliche Entschädigung für eine vergebliche Suche. Borges Namen lasen wir an einem Kulturzentrum auf der Einkaufsstraße Florida. Neben ihm würdigte man noch einen anderen genialen Argentinier: Astor Piazzola (1921-1992). Er hat den Tango neu belebt und geprägt. Seine Musik erklang auf der Fahrt von Buenos Aires nach Porto Madryn in Patagonien.
Auf den Spuren von Bruce Chatwin
Diese Stadt bestand „aus schäbigen Zementhäusern, Blechbaracken und einem Park, den der Wind flach gehobelt hatte“, beschrieb Bruce Chatwin in seinem Klassiker der Reiseliteratur „In Patagonien“ Puerto Madryn. Einiges hat sich seitdem geändert. Die wenigen Bäume sind zwar immer noch flach, nach den Blechbaracken muss man suchen und die Zementhäuser sind ansehnlicher geworden. Trotzdem wird Porto Madryn kein Ferienziel. Von Bord gingen wir wegen der nahen Halbinsel Valdes, die zum Weltnaturerbe gehört. Hier sollte man Wale, Orkas und Delphine sehen. Gesehen haben wir keine, obwohl der Blick ständig zwischen dem Meer und der endlos baumlosen Steppe hin und her ging. Stattdessen nahmen wir vorlieb mit Wal-Fotos und Wal-Filmen im Ecocentro, von dem man einen weiten Blick genoss an einem ungewöhnlich warmen Tag. Einem der Schönsten seit langem in Puerto Madryn und vor allem ganz anders, als Chatwin ihn beschrieben hat: „Das Grau der Klippen war etwas heller als das Grau des Meeres und des Himmels. Der Strand war grau.“
Ushuaia war für den Schriftsteller Chatwin ein Ort, an dem er nicht einmal begraben sein wollte. Verständlich, denn lange war der Ort Sträflingskolonie und danach diente das von Ganoven in gelb-blau gestreiften Wollanzügen errichtete Gefängnis als Flottenstützpunkt. Heute sind in dem Gebäude vier Museen untergebracht. Ein gewisser Aufstieg, der mit einem Anstieg der Bevölkerungszahl einher ging. Die Stadt leistet sich für ihren Anspruch südlichste Stadt der Erde zu sein, noch ein fünftes Museum, das Museo del Fin del Mundo, das Horrorgeschichten vom Ende der Welt zeigen will, aber nur ausgestopfte Vögel ausstellt.
Am Ende der Welt
Um für das Ende der Welt entsprechend ausgestattet zu sein, dafür sorgen auf der Hauptstraße Ushuaias unzählige Läden mit Kleidung und Ausrüstung für das Überleben im Freien. Was die Feuerland- oder Antarktis-Besucher zuhause nicht in den Koffer bekommen, besorgen sie sich hier. Noch heißer begehrt als Outdoor-Equipement sind der Ende-der-Welt-Stempel und Briefmarken. Fünf Dollar für eine Karte und eine lange Wartezeit im Postamt kosteten sie.
Bei Kap Hoorn erreichten wir die Spitze Südamerikas. Entgegen allen Prognosen und Befürchtungen von heftigen Stürmen und meterhohen Wellen war die See ruhig und der Wind blies mäßig. Die Temperatur betrug neun Grad – ein geringer Unterschied zu den 38 Grad in Rio de Janeiro.
Die Wärme hinderte niemanden daran, dick vermummt, frühmorgens an der Reling zu stehen, warmen Kakao zu trinken und die Umfahrung des Kaps zu genießen. Stolz war der Kapitän, der sich den Traum erfüllte, nun zum erlauchten Kreis der Kap Hoornier zu gehören. Kurz vor dem Kap stellte er die Motoren ab und umsegelte es wie in früheren Zeiten.
Die Oper der Wollbarone
Durch die Magellan-Straße erreichten wir das chilenische Puenta Arenas, das sich in Konkurrenz zu Ushuaia als die südlichste Großstadt der Welt bezeichnet. Die Bezeichnung als Großstadt ist nicht nur wegen der größeren Bevölkerungszahl gegenüber dem argentinischen Ushuaia zutreffend, sondern vor allem wegen der höheren Lebensqualität. Abgesehen von den Stolperfallen freien Fußwegen besitzt Punta Arenas – ungewöhnlich für diesen Teil der Welt – ein Opernhaus, kleiner und nicht ganz so pompös wie sein Vorbild, das Theater Colon in Buenos Aires. Fasziniert vor dem Gebäude stehend, bemerkte uns der Hausmeister, bat uns einzutreten und erzählte die Geschichte des Theaters. Wir durften die Bühne betreten, wo er uns wie zwei Sänger an der Rampe fotografierte. Wegen mangelnder Spanisch-Kenntnisse verstanden wir nicht alles. Immerhin so viel, dass die Familie Braun-Menendez die Oper gestiftet und finanziert hatte. Er selber lehnte für seine ausführliche Führung einen Obolus rundweg ab.
Unweit der Oper stießen wir auf die Villa der Familie Braun-Menendez, den Woll-Baronen Patagoniens. Ihr Haus in der Magallanes 949 sieht außen und innen wie ein prunkvolles Pariser Palais der Belle Epoque aus. Einzig das Telefon war von einer schwedischen Firma. Das Haus ist so erhalten, als wäre die Familie soeben erst nach Buenos Aires gezogen.
Ihre Toten setzten Braun-Menendez auf dem städtischen Friedhof in beeindruckenden Grabmälern bei. Den imposanten Eingang zum Totenacker spendeten sie ebenso wie das Ferdinand-Magellan-Denkmal auf dem Hauptplatz der Stadt. Vom Denkmal ragt der Fuß eines Indianers so weit herab, dass er durch viele Berührungen goldig poliert ist. Streiche man über den Fuß, so geht die Fama, kehre man nach Punta Arenas zurück. Vielleicht, wenn im Opernhaus eine Zarzuela erklingt.
Statt klassischer Musik ertönte auf der Fahrt von Punta Arenas nach Puerto Montt Swing. Das Schiffstheater verwandelte sich in den legendären Cotton Club von New York und die Akteure waren im Stil der 1920er Jahre gekleidet. Das Ensemble legte auf schwankenden Brettern eine Show hin, die begeisterte. Nicht zum ersten Mal. Bereits Abende zuvor hatten sie gesungen, getanzt und meisterhaft unterhalten. Man meinte, eine Schifffahrt verbreite allein Spaß und gute Laune.
Kampf der Robben und Seelöwen
Kartoffeln und Lachs waren das nächste Ziel. Lachszucht wird um Puerto Montt so intensiv betrieben, dass Chile neben Norwegen zum größten Produzenten aufgestiegen ist. Und angeblich soll die Kartoffel aus dieser Region stammen. Beides, Lachs und Kartoffeln, wurden auf dem Markt Angelmò reichlich angeboten. Unverkäufliche Teile des Lachses warfen die Händler den Robben zu, die sich um die Fischreste balgten. Sieger blieben meistens die Seelöwen. Ein spektakuläres Schauspiel für die Marktbesucher.
Ähnlich beeindruckend wie der Kampf der Robben und Seelöwen sind die Leistungen und Zeugnisse deutscher Pioniere, die im 19. Jahrhundert in diesen Teil Chiles kamen. In Frutillar bemerkten wir neben deutschen Hausformen viele deutsche Bezeichnungen wie Kuchen und Strudel. Weit mehr der deutschen Siedlungsgeschichte in Chiles Süden zeigt das fabelhafte Freilichtmuseum.
Blick auf die Vulkane
Um überhaupt an Land zu kommen, musste in Puerto Montt getendert werden. Das Schiff ankerte auf See und man verließ es in kleinen Booten. Im Hafen anlegen durfte das Schiff nicht, weil die Schauerleute streikten und weil Präsidentenwahlen stattfanden – so die Erklärungen. Das Tendern war weniger spektakulär als der Blick auf die nahen Vulkane Calbuco und Osorno, der Japans Fujiyama ähnelt.
Statt dem ursprünglichen Ziel Valparaiso, einer Weltkulturerbe-Stätte, lief das Schiff San Antonio an, einen Hafen, der wenig zu bieten hat. Folglich ging es von dort per Bus nach Santiago, der chilenischen Hauptstadt. Der Präsidentenpalast erinnerte uns an den Militärputsch von 1973: Der Bombardierung des Palastes durch die Putschisten um General Pinochet – Einschusslöcher sind an umliegenden Häusern noch zu erkennen – folgte Salvador Allendes Selbsttötung und sein Vergessen während der Diktatur. Nun ist der marxistische Präsident wieder da; seine Statue steht neben der Moneda, dem Sitz des Präsidenten.
Keine Zeit für Neruda
Vor dem Allende-Denkmal erkundigten wir uns nach einem seiner Sympathisanten, dem Literaturnobelpreisträger Pablo Neruda. Dessen Grab sei kürzlich geöffnet worden, um den Leichnam zu untersuchen. Die Analyse ergab, dass er nicht, wie behauptet, an Krebs gestorben sei, sondern vergiftet wurde. Für einen Besuch seines Wohnhauses in Santiago reiche jedoch die Zeit nicht. Wohl auch nicht für sein Haus in Isla Negra an der Dichterküste zwischen San Antonio und Valparaiso. Schade!
Statt des Dichterhauses stand der Besuch eines Weingutes an. Alle freuten sich dem Smog zu entkommen, der über Santiago lag und den Schnee auf den nahen Anden dunkel färbte. Welche Enttäuschung, als der Bus nach wenigen Kilometern vor flachen Ziegelstein-Hallen hielt, um die herum mehrere Hochhäuser standen. Weinberge waren partout nicht zu sehen. Die befinden sich etwa 200 Kilometer südlich, erklärte man. Die Lese werde hierher transportiert und verarbeitet. Die Schaumweine werden auch nicht mehr von Hand gerüttelt, sondern von Maschinen. Allerdings verschmähe man Plastikverschlüsse und bevorzuge Naturkork aus Portugal. Der habe eine höhere Wertigkeit. Nach den Erläuterungen sprachen wir dem chilenischen Champagner zu, der nicht so heißen darf, und waren angetan von dem leckeren Tropfen. Das galt auch für die produzierten Rot- und Weißweine. Über Probieren und einigen appetitlichen Happen vergaßen wir, dass wir uns mitten in Santiago befanden. Erst als das Gespräch auf Erdbeben kam, wurde uns die Lage des Weingutes bewusster. Die Hochhäuser seien bis Neun auf der Richterskala gegen Erdbeben sicher und die Glasflaschen lagere man so, dass sie bei einem Beben nicht entzwei gehen. Das letzte Beben habe nämlich die Hälfte der Produktion gekostet. Zufrieden, dass der Nachschub mit guten Weinen gesichert bleibt, verließen wir das Weingut und Santiago.
Gen Ozeanien
Valparaiso, in seiner Blütezeit als Juwel des Pazifik bekannt, unterscheidet sich in vielerlei von Santiago. Die Hauptstadt liegt auf einer Hochebene und ist regelmäßig angelegt, während Valparaiso verwirrend an den Hängen hinauf und hinab steigt. Den Höhenunterschied überwinden wie in Lissabon Aufzüge und Zahnradbahnen – wenn man sie in dem Häusergewirr findet. Während der Fahrt genießt man einen weiten Blick über die Hafenstadt. Noch schöner ist die Aussicht von der Terrasse des Kunstmuseums, das im Stil van der Veldes erbaut aus den übrigen Bauten herausragt. Unweit befindet sich die Lutherische Kirche La Santa Cruz, in der mit einer Ausstellung, viele Meilen von Wittenberg entfernt, Martin Luther und das Reformationsjubiläum gefeiert wurden. Mit dieser Erinnerung an das alte Europa verließen wir Valparaiso und brachen gen Ozeanien auf.
Fotos: Gisela Marzin