Florenz, Norditalien. Was für eine Stadt! Balkone beugen sich über den Arno, die Villen auf den angrenzenden Hügeln wetteifern darum, gesehen zu werden. Bis ins Zentrum hinein meint man, die nahen Pinien und Oliven zu riechen. Hochgewachsene Damen tragen heute bereits die Mode von morgen, ihre Handtaschen sind einen Gebrauchtwagen wert. Selbst die Männer umweht ein Parfümduft.
Doch was ist das? Ein verschwitzter Mann mit Rucksack und Wanderstab geht quer über die piazza della signoria, den Rathausplatz. Er lässt eine Reisegruppe links liegen, bemerkt nicht, wie ihm eine adrette Dame im neuesten Outfit von Georgio Armani entgeistert nachblickt und fällt einem ähnlich gekleideten Pilger in die Arme.
»Bereit für unser großes Abenteuer, Bruno?«
»Ragazzo, ich wurde bereit geboren!«
So kam es, dass wir nun in Chiusi della Verna sind, einem Zusammenschluss von zwei Hand voll Häusern, die sich unterhalb eines Felsens an die Hänge des Apennins klammern, als hätten sie Angst herunterzufallen. Uns gegenüber sitzt Marida und schreibt ihr bestes Kochrezept auf. Schwungvoll fährt ihr Bleistift über das Papier. Vermutlich ist Marida Mitte achtzig, vielleicht auch älter, doch an ihren rot lackierten Fingern buhlen noch immer drei Ringe keck um die Aufmerksamkeit des Betrachters.
Bruno hat Marida das Kochrezept entlockt. Natürlich, immerhin ist er Koch, und die Sache mit den Rezepten entspricht unserer Idee: Von hier an wollen wir auf Franz von Assisis Spuren nach Rom gehen, 500 Kilometer auf dem Franziskusweg durch die Toskana, Umbrien und Latium wandern und dabei das echte, ursprüngliche Italien aufspüren.
Der Eisbrecher
Die Rolle des Eisbrechers ist Bruno auf den Leib geschneidert. Sein offenes Gesicht kommt einer Gesprächseinladung gleich. Von seiner Heimat Kalabrien ist ihm ein wunderbarer Singsang geblieben: Sanft abgerundete Konsonanten bereiten den Weg für schwungvolle Vokale, die das Mittelmeer zu umhauchen scheint. In so einen Dialekt kann man sich kuscheln wie in eine Decke. Wenn er mein Italienisch nachahmt, hackt Bruno dagegen die Wortendungen ab, betont die Zischlaute, röchelt ungesund und klingt alles in allem wie ein miesepetriger Bundeswehrfeldwebel.
An unserem ersten Pilgertag folgen wir tapfer der sporadisch erkennbaren rot-weißen Markierung durch Viehweiden hindurch, über Zäune hinweg und mehrmals mitten durchs Geäst. Unvermittelt stehen wir auf einer Lichtung, ohne eine weitere Markierung zu sehen. Was nun?
»Kein Problem, Bruno. Wir sind ja zu zweit. Du gehst ein paar Schritte hier links hinein, ich folge dem rechten Weg. Wer zuerst das Zeichen entdeckt, gibt dem anderen Bescheid.« »Das ist ein toller Plan, Thomas. Daran erkennt man den erfahrenen Fernwanderer.«
Drei Minuten später schallt Triumphgeheul durch den Wald.
»Ha, ich hab’s gefunden, Thomas!«
»Klasse, Bruno. Eine weiß-rote Raute, nicht wahr? So eine gibt es hier auch!«
Zurück auf der Lichtung entdecken wir die Raute auch auf dem geradeaus weiterführenden Weg. Wir beschließen, der breitesten Abzweigung zu folgen – ein schwerer Fehler. Sie führt uns tiefer in den Wald hinein und nicht mehr hinaus. Um sich selbst zu finden, muss man sich erst einmal verirren, hat ein weiser Mann einst gesagt. Der war aber wohl nie auf dem Franziskusweg unterwegs. Wenn man mehrmals täglich falsch abbiegt, beginnt einen die Sache zu nerven. So oft, wie Bruno und ich heute danebenliegen, können wir uns gar nicht finden.
Nach mehreren Stunden halten wir zwei Pilzesammlern die Namen der Dörfer entgegen, die unserer Karte zufolge vor uns liegen. Montalone? Pieve Santo Stefano? Davon haben sie noch nie gehört. Wo es denn zur nächstgelegenen Siedlung gehe? Oh, das wiederum sei einfach.
Nur noch dreieinhalb Stunden. Oder vier
»Folgt der Abzweigung hier rechts, bis ihr nach etwa anderthalb Stunden auf eine Straße stoßt. Von dort sind es noch acht Kilometer bis zum Dorf.«
»Dann brauchen wir bis dorthin also dreieinhalb Stunden?«
»Eher vier, weil der Weg steil bergab führt und ihr ständig bremsen müsst. Und, naja, ein richtiges Dorf ist das eigentlich nicht, eher die Andeutung einer Siedlung mit drei oder vier Häusern.«
Eine Stunde später fällt uns auf, dass es eine gute Idee gewesen sein könnte, zu fragen, ob wir auf besagter Straße eigentlich rechts oder links abbiegen müssen. Mein Bonus als »erfahrener Fernwanderer« schmilzt mit jedem Schritt.
Chitigniano prangt schließlich auf dem Ortsschild – ein Name, den ich weder aussprechen noch verorten kann. Erst der Busfahrer klärt uns auf. Das Bergdorf befinde sich etwas abgelegen; der nächstgelegene Ort sei aber nur eine Stunde entfernt, man könne ihn von hier aus sehen, er nenne sich Chiusi della Verna.
Tatsächlich haben Bruno und ich es vollbracht, an unserem ersten Wandertag einen knapp 30 Kilometer langen Bogen zu schlagen und ganz in der Nähe unseres Ausgangspunkts, nur etwas tiefer im Tal, herauszukommen. Eine echt italienische tangente, ein »Umweg« also oder eine »Umgehung« – auch wenn damit vor allem Schmiergelder bezeichnet werden, mit denen man Gesetze umgeht, Bauaufträge bekommt oder weniger Steuern berappt. Genau so sollte es in den kommenden Wochen weitergehen.
Che Guevara auf Italienisch
Pietralunga erreichen wir zweieinhalb Tage später als geplant. Es ist ein zweigeteilter Ort. Der kompakte Dorfkern thront auf einer Hügelspitze. Er weist vorzeigbare Gassen und eine gedrungene Kirche aus dem Mittelalter auf, wird aber auf halber Höhe umkränzt von zweckmäßigen Wohnblocks, Billigläden und einem heruntergekommenen Supermarkt. Pietralunga ist ein schönes Gesicht, verunstaltet von einem wuchernden Bart: Che Guevara auf Italienisch.
Bis vor Kurzem lebten hier noch 6000 Menschen. 1500 von ihnen sind geblieben. Fast alle Jugendlichen haben sich davongemacht; sie studieren in Perugia oder in Rom, vielleicht arbeiten sie auch bereits in Madrid oder in München. Die Alten sind noch hier. Da in Pietralunga nichts los ist und man eine Woche lang darüber spricht, wenn jemand einen Trüffel im Wald gefunden hat, streichen die Dörfler gelangweilt über die kleine piazza. Dieses Lotterleben hat wenig mit dem romantisierten Dolcefarniente, dem süßen Nichtstun, gemein, auf das wir Deutsche so neidisch sind, weil wir zwar hart arbeiten, aber uns nicht wirklich entspannen können. Der Müßiggang in Pietralunga ergibt sich aus dem Mangel an Möglichkeiten. Dörfer wie Pietralunga gibt es viele auf dem Franziskusweg.
Auf dem Weg nach Gubbio ist Bruno ganz Koch. Immer wieder springt er rechts und links ins Gestrüpp und kommt mit Händen voller Äpfel, Feigen und Himbeeren zurück. Im Italienischen ist er übrigens nicht Koch. Er »macht« Koch, fare il cuoco. Mir gefällt diese Kombination gut. Sie zeigt Respekt vor dem Beruf und verdeutlicht, dass dieser einen nicht vollständig definiert. Denn wer Koch »ist«, was ist der sonst noch?
Bruno verbessert mein Italienisch mit Witz und Ausdauer. Sind wir bald in Gubbio? Vedremo, mal sehen. Schaffen wir das denn noch heute? A d’occhi chiusi, mit links! Und wie ist die Strecke dorthin? È un piacere, Bruno, mit dir sie ist ein Genuss.
Es heißt grazie mille
In Gubbio bläut mir Bruno nach dem Mittagessen ein, bloß keinen espresso zu ordern. Beim italienischen caffè handele es sich nämlich bereits um Espresso, und an der Verwendung dieses vermeintlich so typisch italienischen Wortes erkenne man zielgenau den Ausländer, der vermutlich auch mille grazie sage statt grazie mille.
Während des Essens haben wir ungewohnt viel Platz. Ich meine zu wissen, woran das liegt. Voglio il tuo profumo!, schmachtet Gianna Nannini mit wunderbar rauchiger Stimme in einem ihrer größten Hits. »Ich will deinen Geruch!«. Zu uns würde sie das derzeit wohl eher nicht sagen. Unsere Hosen sind dreckverschmiert, auf unseren T-Shirts hat der Schweiß Schlieren hinterlassen. Vermutlich rümpfte sie eher die Nase und murmelte etwas wie no grazie, fate la doccia, »duscht euch erstmal!«
Auch Gubbio braucht uns nicht, es ist sich selbst genug. Unverrückbar stehen seine gedrungenen Häuser dicht an dicht; sie umarmen einander mit Bögen und Brücken über enge Gassen hinweg. Alle Gebäude haben Jahrhunderte auf dem Buckel. Sie haben Naturkatastrophen und Kriege kommen und gehen sehen. Wir Menschen müssen ihnen vorkommen wie Eintagsfliegen.
Dem Landstrich geht es ähnlich. Umbrien befindet sich ziemlich genau in der Mitte des Landes. Italiens Fuß, der beständig gegen Sizilien kickt, ist schweißig und dreckig, verheddert in mafiöse Machenschaften und auf eine unerklärliche Art besonders liebenswert. Den Kopf trägt das Land erhoben, und das liegt nicht nur an den Bergen, die ihn wie eine Haarpracht umgeben. In Tirol, im Piemont und in der Lombardei hat Italien sich schick gemacht. Adrett sind die Äcker, sauber die Städte und sicher die Straßen. Der Apennin ist der Rumpf, der alles zusammenhält: Die anderthalbtausend Kilometer lange Wirbelsäule Italiens will Schritt für Schritt erwandert werden.
Die Route steht, die Frisur sitzt
Also los: 50 Kilometer liegen zwischen Gubbio und Assisi – eine Strecke, die Franziskus der Legende zufolge an einem einzigen Tag zurückgelegt hat. Ehrensache, dass Bruno und ich das auch versuchen. Und wir sind vorbereitet! Wir haben den Tag mit deutscher Gründlichkeit durchgeplant. Zweieinhalb Stunden marschieren, eine halbe Stunde Pause, das Ganze fünf Mal, dann sind wir in Assisi. Die Route steht, die Frisur sitzt. Wir sind bereit. Als wir in der Hotellobby den Kaffee ausschlagen, den uns ein müder Angestellter anbietet, fühlen wir uns bereits wie Helden. Im Morgengrauen knipsen wir unsere Stirnlampen an und gehen schnurstracks auf den Ortsausgang zu. Das »klack, klack« unserer Wanderstöcke gibt uns den Takt vor. Allegro, in tempo, molto grazioso!
Bald aber wird der Pfad so steil, dass man Treppen angebracht hat. Wir stürzen Schluchten entgegen, überqueren Bachläufe, erklimmen Gipfel und rutschen gleich wieder ins nächste Tal hinab. Als wir gegen vier Uhr nachmittags ein Städtchen ausmachen, meinen wir einen Sekundenbruchteil lang, oberhalb von Assisi zu stehen. Dann wird uns klar, dass das nicht sein kann. Drei Dörfer liegen unserer Karte zufolge zwischen uns und dem Geburtsort von Franziskus, dieses muss das erste davon sein.
Zum Schein führt der Weg in das Dorf hinab, schlägt dann aber einen kilometerlangen Bogen und entlässt uns in der Nähe eines anderen Dorfes, das wir bislang nicht hatten sehen können. Die Sonne dimmt ihr Licht, bis das gesamte Städtchen im Dunkeln liegt. Allmählich wird uns klar, dass wir heute nicht mehr in Assisi ankommen werden.
Festmahl bei la mamma
Gegen sechs Uhr abends, dreizehn Stunden nach unserem Aufbruch von Gubbio und mit dreieinhalb Stunden Verspätung gegenüber unserem ausgeklügelten Zeitplan, kommen wir in einem Dörfchen namens Valfabbrica an. In der dortigen Herberge treffen wir auf Anna-Rita, die vermutlich Modell gestanden ist für la mamma, die Vorzeigeitalienerin. Die Frau ist ein Phänomen. Kochmütze und Schürze stehen ihr, als seien sie ihr auf den Leib geschneidert. Das Abendessen kommt einem Festmahl gleich, wie es Franziskus seit seiner Hinwendung zum Christentum wohl nicht mehr genossen hat. Zum Glück haben wir an diesem Morgen in Gubbio die entscheidende Abzweigung verpasst, sagen Bruno und ich immer wieder. Vier Menügänge, drei Stunden, zwei Gläser Spumante und eine lange Umarmung später schlüpfen wir in zwei wolkenweiche Betten.
Harte Aufstiege, Muskelkatergarantie und zur Belohnung unvergleichliche Stunden in unscheinbaren Dörfern – das ist der Franziskusweg. Benvenuti in Italia!
Weiterführende Informationen
■ Anreise: mit dem Flugzeug von vielen deutschen Städten (z.B. Berlin, Hamburg, München, Frankfurt a.M.). Alternativ (und evtl. günstiger) fliegt man nach Pisa und fährt von dort mit dem Zug in 1h nach Florenz. Von München aus gibt es Nachtzüge und günstige Fernbusse.
■ Beste Reisezeit: Mai/Juni, wenn Flieder und Klatschmohn blühen, das Wetter stabil, aber nicht zu heiß ist, und die Dörfer mit traditionellen Festen aufwarten.
■ Reiseroute: Der Franziskusweg führt von Florenz über Assisi nach Rom – 500km durch den spektakulär schönen Apennin mit authentischen Dörfern und echter italienischer Lebensart. Dauer: 3-4 Wochen. Reiseführer: »Italien: Franziskusweg« von Kees Roodenburg, Conrad Stein Verlag
■ Voraussetzungen: Gelassenheit angesichts fehlender Wegmarkierungen und spontaner Wetterwechsel, eingelaufene Bergstiefel, Italienischkenntnisse von Vorteil.
■ Reisetipps: Nehmen Sie sich Zeit für die auf dem Weg liegenden Dörfer und suchen Sie in Bars, Restaurants und Eisdielen das Gespräch. Sie werden reich belohnt werden.
■ Bloß nicht: Katholische Andachten sollte man nicht fotoknipsend stören. Cappuccino und Latte Macchiato werden nur vormittags getrunken, nicht abends oder nach einem Essen. Mit einer Barbekanntschaft sollte man nicht gleich über politische Themen wie die Mafia diskutieren. Und Spaghetti isst man wirklich nicht mit dem Löffel!
■ Kosten: 40-50€ pro Wandertag, bei Übernachtung in einfachen Hotels oder Bauernhöfen
■ Reiseliteratur: »Italien erwandern – Auf dem Franziskusweg von Florenz nach Rom« von Bruno Mazza und Thomas Bauer, Wiesenburg Verlag. Infos zum Autor: www.neugier-auf-die-welt.de
Fotos: Thomas Bauer