Als erstes steigt der Duft von Gewürzen in die Nase, wenn man von Bord der MS Hamburg geht, den Pier verlässt und mit dem Rad hinaus fährt nach Grenada, einer der südlichsten Inseln der Kleinen Antillen. Hier gedeihen, oft wild, Nelken, Lorbeer, Ingwer, Vanille, Safran, Pfeffer, Piment, Kurkuma sowie Zimt, die Rinde des gleichnamigen Baumes, der überall wie Unkraut sprießt. Ähnlich ist es mit vielen Früchten: Bananendolden hängen am Wegesrand, es wachsen Mangos und Papayas und auf Bäumen die Muskatnuss, die wie eine Pfirsich aussieht und, wenn reif, aufplatzt, sodass der Kern offen liegt. Die Muskatnuss ist eines der edelsten Gewürze, denn ihr Aroma verfeinert sowohl salzige als auch süße Speisen. Um sich die Verarbeitung der Muskatnuss, Grenadas Exportschlager, genauer anzuschauen, sollte man in den Norden der Insel fahren.
Das ist unser Ziel, als wir mit dem Schiff in St. George’s, der Hauptstadt Grenadas, anlegen. Die Tourenräder stehen auf dem Kai bereit. Nach einer kurzen Inspektion der Räder, die gut gepflegt sind, Helm auf und los geht’s.
Hupen aus Anerkennung
Auf dem Weg vom Anleger bis in die Stadt betrachten uns die Mitreisenden neidisch, weil der Fußmarsch bereits morgens anstrengt, aber sie blicken auch abschätzig, weil sie mit dem Taxi viel besser die Insel erkunden würden. Radelnd kühlt der Fahrtwind und die Hitze belastet zunächst kaum. Die Küstenstraße, erst flach, wird allmählich kurviger und bergiger. Öfter steigen wir vom Rad und schieben es. Laut und vernehmlich hupen die überholenden Fahrzeuge; anfangs, weil sie wohl nie Radler gesehen haben, später – so scheint es – aus Anerkennung vor unseren Anstrengungen.
Gegen Mittag wird es immer heißer und drückender, selbst der Fahrtwind hilft längst nicht mehr. Die Straße scheint immer schmaler zu werden und die Fahrzeuge rauschen im 30-cm-Abstand vorbei. Aus Vorsicht und Angst weichen wir auf den tiefer gelegenen Grünstreifen aus, wenn nicht Bäume und Sträucher ihn versperren. Überall riecht man diesen herrlichen Duft, der selbst die Abgase überlagert. An einem Strand halten wir und springen in das in allen Blau- und Grüntönen schimmernde, klare Wasser. Die leuchtenden Farben entschädigten für die Qualen der letzten Kilometer. Erfrischt und entspannt geht es zunächst weiter, aber Sonne und Verkehr ersticken nach kurzer Zeit den Elan: Wir kehren um.
Statt durch die Muskatnuss-Wälder zu radeln und die Nuss verarbeitenden Betriebe im Norden Grenadas zu besuchen, ist nun der Markt in St. George’s unser Ziel. Die Aussicht auf Früchte und Gewürze macht den Rückweg leichter.
Auf dem Markt verkaufen Frauen in bunten Kleidern und Kopftüchern Nelken, Zimt, Chilisaucen, Brotfrüchte, Avocados, Mangos, Papayas, Wassermelonen, Bananen und noch vieles mehr. Selbstverständlich auch Muskatnüsse und ein Rum-basiertes Aphrodisiakum, welches wahre Wunder wirken soll. Auch ohne solch ein Aufputschmittel und ohne die zahlreich angebotenen geöffneten Kokosnüsse mit Strohhalm für wenig Geld zu erwerben, fühlen wir uns fit, um die Stadt per Rad zu erkunden.
St. George’s – Stadt in Pastellfarben
St. George’s lohnt sich nicht nur wegen des Marktes, sondern die Stadt zählt mit ihren terrassenförmig ansteigenden Häusern in Pastellfarben zu einer der schönsten in der Karibik. Entlang der hufeisenförmigen Bucht The Carenage erinnern alte Lagerhäuser aus Ziegelstein an die britische Kolonialzeit. Viele wurden umgewandelt in schicke Regierungsbauten. Auch die wohl kaum ein Zimmer große Vertretung der EU in Grenada ist in einem dieser alten Häuser untergebracht.
Störend und für Radler kaum zu überholen sind die großen Geländewagen und SUV – auf den Kleine Antillen kennt man anscheinend keine Kleinwagen -, die durch die gewundenen Straßen durch das Zentrum schleichen. Wenn es einmal etwas schneller geht und enger wird, plumpst schon mal ein Fahrzeug in die Bucht. Die Bergung des Autos ist für alle Einheimischen und Touristen ein Schauspiel und sie lähmt den gesamten Verkehr in der Stadt. Im Stau ist der Radler wenigstens im Vorteil und so kehren wir ohne Weiteres zur auslaufbereiten MS Hamburg zurück.
Vulkankegel Twin Pitons auf St. Lucia
Auf St. Lucia, der nächsten Insel und wie Grenada ein eigener Staat, lockt das Wahrzeichen der Karibik, die beiden dicht nebeneinanderliegenden Vulkankegel Twin Pitons mit den schwefelhaltigen Quellen. Doch von Castries, der Hauptstadt, und unserer Anlegestelle ist der Weg mit dem Rad zu weit und vor allem extrem bergig. In Castries lassen wir das auf Touristen zugeschnittenen Shoppingcenter Pointe Seraphine links liegen und besuchen den mitten im Zentrum gelegenen und von alten Bäumen gesäumten Derek Walcott Square, auf dem eine Statue an den in Castries geborenen Nobelpreisträger von 1992 erinnert, und die am gleichen Platz gelegene Kathedrale.
Als wir uns nach Rodney Bay, einer kreisrunden, von dichten Regenwald umgebenen Bilderbuch-Bucht und Ziel aller Segler, aufmachen, brennt die Sonne so heftig, dass die Kleider bereits nach wenigen Tritten in die Pedale durchgeschwitzt sind. Zwar ist die Straße diesmal breiter, was die Autofahrer zu waghalsigen Überholmanövern verführt, aber der Radweg ist eigentlich keiner, sondern nur eine unendlich lange, eckige Betonschüssel, in der die Versorgungsleitungen laufen und die mit Platten abgedeckt ist. Zwischen diesen Platten klaffen kleinere und größere Lücken, sodass man schon mal stecken bleiben und stürzen kann.
An der Choc Bay halten wir: Ein Strand wie aus einem Hochglanzmagazin: Vor grünen Bäumen und Palmen feinster weißer Sand, auf dem blaugrün schimmernde Wellen träge auslaufen. Weit und breit niemand, nur ganz entfernt ein Haus auf Stelzen. Nach einiger Zeit jedoch tummeln sich bekannte Gesichter auf diesem herrlichen Stück Natur. Einige Mitreisende der MS Hamburg haben mit Taxis diesen Strand erreicht. Dass wir es mit dem Rad hierher geschafft haben, erstaunt sie, war doch ihre Anfahrt anstrengend und schweißtreibend genug. So wird auch unsere Rückfahrt mit dem Rad.
Zurück in Europa
Das nächste Ziel heißt Marie Galante, eine Insel, die zum französischen Übersee-Departement Guadeloupe gehört. Trotz eines neunstündigen Fluges befindet man sich quasi wieder in Europa, wo mit Euro statt mit Karibischem Dollar bezahlt wird und wo statt der sonst so verbreiteten Toyotas und Suzukis reichlich französische und deutsche Autos fahren, obwohl es nur rund 60 Kilometer Straßen gibt.
Bei der Wanderung über die Insel entdecken wir in einem Unterstand neben einem eher bescheidenen bunten Haus einen tipptopp gepflegten Rolls Royce Silver Cloud I aus den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Um Marie Galante einmal zu umrunden, verbraucht die Nobelkarosse etwa 20 Liter Benzin, während wir bei unserem Fußmarsch nur transpirieren.
Von französischer Lebensart zeugt ein Restaurant im Meer. Mehrere Inselchen, jeweils bestehend aus einem Tisch und zwei Bänken mit einem Dach darüber, schwimmen im Wasser. Wenn das Essen kommt, zieht der Kellner an einem Tau, holt das Inselchen heran und serviert die köstlichsten Gerichte. Mit den Füßen im kühlenden Nass hält man es bestens aus und das Essen mundet doppelt.
Anderntags warten die Räder wieder, um uns von der niederländischen Stadt Philipsburg auf St. Maarten in das französische Marigot auf St. Martin zu bringen. Zwischen Amsterdam und Paris gibt es für Radler keine größeren Hindernisse, aber zwischen den karibischen Gegenstücken türmen sich Steigungen und der Autoverkehr braust derart lebhaft, dass wir genervt aufgeben und uns auf die Umgebung von Philipsburg beschränkten. Während auf den anderen Inseln vornehmlich Gewürze, Gemüse und Früchte angeboten werden, verkauft man in Philipsburg Diamanten. So viele Edelsteinläden auf einem Quadratkilometer gibt es wohl kein zweites Mal. Kein Wunder, denn die riesengroßen Kreuzfahrtschiffe mit mehr als 35000 Passagieren legen vornehmlich hier an, während ihnen die kleineren Inseln verschlossen bleiben. Als Radler wird man von den Sicherheitskräften besonders argwöhnisch betrachtet. Es könnte sich ja um einen neuen Trick handeln, um an die teuren Klunker zu kommen.
Mit dem Sugar Train rund um St. Kitts
Auf St. Kitts bleiben die Räder stehen und zur Abwechslung und Erholung wird Zug gefahren. Der Sugar Train umrundet die Insel, durchquert die weitgehend aufgelassenen Zuckerrohrfelder und passiert verfallene Windmühlen und Schornsteine. Unterwegs wird reichlich Rum in jeder Form angeboten.
Auf der Nachbarinsel Nevis, die mit St. Kitts einen Staat bildet, tobt karibischer Wahlkampf. Die Anhänger der konkurrierenden Parteien versammeln sich auf zwei Plätzen und lauschen dem Reggae, der aus meterhohen Lautsprechern tönt und zusätzlich von Tröten und Trompeten untermalt wird. Dem entgehen lässt sich nur, wenn man den legendären Jungbrunnen aufsucht, in dem schon Horatio Nelson Kraft und Energie geschöpft hat für seine Hochzeit mit einer Insulanerin und seinem Aufstieg zum legendären englischen Seehelden. Ein Minimuseum erinnert an die Zeit Nelsons in der Karibik und seine Karriere bis zum Tod bei Trafalgar. Der Weg zum Schiff führt wieder an der ohrenbetäubenden Musik und dem tanzenden und swingenden Politpublikum vorbei.
Die Schönen und Reichen unter sich
Ohne Rad müssen wir auf den nächsten zwei Inseln auskommen. Das Schiff liegt auf Reede und die Passagiere werden in kleinen Booten an Land gebracht. St. Barth oder St. Barthélemy scheint bewusst auf einen Anleger zu verzichten, damit die Schönen und Reichen dieser Welt unter sich bleiben. Nur überdimensionierte Yachten und Katamarane sieht man gern, verfügen doch ihre Eigner über das entsprechende Kleingeld, um bei Cartier oder Bulgari, Hermes oder Longchamp direkt am Kai einzukaufen.
Auf St. Barth sieht man im Gegensatz zu den anderen Inseln mehr Weiße und die erfreuen sich an farbigen Mannequins, welche auffällig am Strand posieren und die Bikinis der Saison vorführen. Wenn die Modells wie Venus dem Meer entsteigen, fokussiert sie nicht nur der Kameramann, sondern alle Augen des Strandes richten sich auf sie. Manch‘ einer vergisst beim Starren das strenge Rauchverbot und entsorgt seine Kippe im Sand, was laut Ankündigung schwerste Strafen nach sich zieht.
Nicht Bikinis präsentiert die „dicke Jungfrau“ (Virgin Gorda gehört mit 3700 Einwohnern zu den British Virgin Islands), sondern mächtige rundgeschliffene Granit-Brocken säumen ihre Südwest-Küste. „The Bath“, die Bäder, nennt man die labyrinthartige Anordnung von versteckten Buchten, die durch die Granitblöcke geschaffen werden. Dahinter liegen, versteckt zwischen Hügeln und Meer, in tropischen Gärten edle Bungalows und Hotelanlagen.
Wo ist die Boa Constrictor?
„The Nature Island“ nennt sich Dominica und hat mehrere Nationalparks eingerichtet, die durch schmale, gekennzeichnete Pfade erschlossen sind – für Radler allerdings völlig ungeeignet. Als Europäer schlägt man sich bang durch Mangrovensümpfe und Regenwälder und möchte auf keinen Fall einer Boa Constrictor begegnen, einer Riesenschlange, die hier ein reichhaltiges Nahrungsangebot findet. Da wäre es auf der Pottwal-Forschungsstation von Andrea und Wilfried Steffen, die auf der MS Hamburg diese Meeressäuger vorgestellt haben, sicher ungefährlicher.
Mit dem Rad durch die Karibik ist wesentlich schwieriger als erwartet. Auf den wenigen Straßen fließt reichlich Autoverkehr und man nimmt wenig Rücksicht auf Fußgänger oder Radfahrer. Und es gibt vor allem viele extreme Höhenunterschiede. Wander- oder Radwege sind nicht vorhanden – einzige Ausnahme Dominica. So ist der Tourist auf die von den Kreuzfahrtschiffen angebotenen motorisierten Ausflüge angewiesen oder er vertraut sich einem einheimischen Taxifahrer an. Trotz aller erlittenen Unbill als Radler überwältigt die Karibik mit traumhaften Stränden und einer freundlichen Bevölkerung.
Die letzte Insel Guadeloupe mit seiner Hauptstadt Pointe-à-Pitre gehört wieder dem Flaneur und dem hier geborenen Literatur-Nobelpreisträger Saint-John Perse (1887-1975), der am Ende seines Lebens das Französische höher schätzte als seine karibischen Wurzeln. Wohl deshalb fällt die Präsentation zu seinem Leben und Werk im Musée Saint-John Perse bescheiden aus: Ein kleiner Schaukasten und drei Tafeln unter dem Dach.
Die Poesie der Antillen
Die Melange verschiedener Kulturen, die Saint-John Perse reflektiert, ist wohl ein Charakteristikum der Karibik, wo indigene, nordamerikanische, europäische und afrikanische sowie asiatische – nach der Aufhebung der Sklaverei engagierten Plantagenbesitzer indische Arbeiter – Einflüsse sich begegnen und kreuzen und eine eigene Kultur hervorgebracht haben. Derek Walcott, der auf St. Lucia geborene Nobelpreisträger, sagte über seine Heimat: „Ich meine mit Antillen, die Realität des Lichtes, der Arbeit, des Überlebens. Ich meine, ein Haus an der Seite einer Landstraße, dann meine ich das Karibische Meer, dessen Geruch von erfrischender Möglichkeit ist, sowie das Überleben…Dies ist die sichtbare Poesie der Antillen…“